Schritt 6: Und das Freilernen beginnt
Ihr habt euren Weg gefunden, um in eurer Familie freie, selbstbestimmte Bildung zu leben.
Was heißt das nun? Wie sieht das konkret aus? Die Antwort hierauf ist gleichermaßen schwierig und doch auch sehr einfach zu geben. So unterschiedlich wie jeder Mensch nun einmal ist, so unterschiedlich ist auch der Umgang mit dem Freilernen.
Für viele Familien bedeutet Freilernen wahrscheinlich einfach, dass man ein ganz normales aber eben sehr freies Leben führt. Man steht dann auf, wenn man ausgeschlafen hat oder sich auf Grund eines selbst auferlegten, morgendlichen Termins eben den Wecker gestellt hat. Man verbringt etwas nette gemeinsame Zeit vielleicht beim Frühstück, bis dann jeder seiner Wege geht und man sich an irgendeinem Punkt des Tages wieder trifft und austauscht. Was der einzelne so unternimmt, wird vom anderen nicht bewertet. Wenn jemand Unterstützung benötigt, wird ihm diese, wenn irgend möglich, zu Teil. Jeder neue Tag ist irgendwie bunt, begeisternd und organisch. Das familiäre System gibt einen kleinen, nicht all zu festen Rahmen und das Leben aller Beteiligten entwickelt sich seiner individuellen Gesetzmäßigkeit nach.
Hm, klingt das für dich jetzt Wischi-Waschi und nach Hippie-Romantik? Etwas mehr Struktur darf es doch dann schon sein, meinst du? Ja, genau an diesem Punkt scheiden sich auch innerhalb der Freilerner-Bewegung gern mal die Geister. In der einschlägigen Literatur finden hierzu unzählige Alltagsbeispiele und Lebenskonzepte Erwähnung, die teilweise sehr gegensätzlich sind. Ein paar typische Varianten möchte ich hier möglichst wertfrei skizzieren.
Typ 1: Alles ganz frei – die Radical Unschooler
Beim Radical Unschooling kann der junge Mensch seinen kompletten Lebensweg völlig frei gestalten. Die Eltern hinterfragen weder den Weg noch das Ziel. Der Sohn oder die Tochter möchte gern die nächsten vier Monate nichts anderes machen als Minecraft zu spielen? Total okay! Er oder sie will bei einem Dachdecker in die Lehre gehen und danach mit der Gitarre auf dem Rücken auf die Walz gehen? „Hier mein Kind, deine Wegzehrung für die ersten Kilometer.“ Das Kind verachtet das ganze „Kapitalsystem“? Es will wie Diogenes in der Tonne wohnen, von dem leben, was andere wegwerfen und einfach genug Zeit zum Sinnieren haben? Auch gut. Denkbar ist aber eben auch: „Ich möchte später mal unbedingt eine große Sportwagensammlung haben und fange jetzt so früh wie möglich an, viel Geld zu machen. Ich habe gleich einen Skype-Call mit meinen indischen Subunternehmern, die an meiner App mitprogrammieren. Mark Zuckerberg soll sich warm anziehen!“
Zugegeben: Das ist jetzt wahrscheinlich alles überspitzt, macht aber (hoffentlich) das Prinzip klar.
Der Respekt vor den Neigungen und das Vertrauen in die Entscheidungen des jungen Freilerners ist bei seinen Eltern so ausgeprägt, dass hier keinerlei Vorgaben gemacht, keine Grenzen gezogen, keine äußeren Impulse absichtlich gesetzt werden. Wie der Name schon sagt: Radikales Unschooling.
Die Erfahrung mit all jenen jungen Menschen, die diesen Weg beschreiten durften, zeigt in aller Regel, dass sie bei Erreichen des Erwachsenenalters eine breit gefächerte Bildung, vielfältige Interessen und Kenntnisse haben und dass sie auch in monetärer Hinsicht aus unterschiedlichen Quellen Einkünfte generieren und insgesamt ein gutes Auskommen haben.
Typ 2: Alles frei außer Mathe
Die meisten Eltern merken sehr schnell, dass ihre Kinder sich von allein beachtenswert gut bilden. In allen gängigen Wissensbereichen erreichen die jungen Menschen meist ein Bildungs-Niveau, das dem ihrer beschulten Altersgenossen entspricht, häufig übertreffen sie diese sogar. Lesen und Schreiben lernen einige der Kinder schon recht früh, häufig vor Schuleintrittsalter. Einzig und allein Mathematik ist für viele „so eine Sache“. Sicherlich wird der junge Freilerner schon früh mit Geld umgehen und das Wechselgeld nachzählen können. Auch Backzutaten abwiegen und genaues Maßnehmen mit dem Zollstock ist meist kein Problem.
Mit der formalisierten Mathematik jedoch, wie wir sie aus der Schule kennen, mit Quod erat demonstrandum, dem Satz des Thales und Polynomdivision wird er wahrscheinlich erst mal nicht in Berührung kommen.
Hier kann man sich nun fragen, ob das denn ein Problem ist. Wenn der junge Mensch irgendwann eben höhere Mathematik benötigt, dann wird er sie sich schon auch aneignen. Und ist nicht auch genau die lebensferne Formalisierung das Hauptproblem, das viele Schüler mit Mathematik in der Schule haben?
„Ja, mag sein“, wird hier der ein oder andere Erwachsene nun sagen, dennoch aber ist ihm wichtig, dass die eigenen Kinder gewisse Kenntnisse in formaler Mathematik mitnehmen. Sei es, damit man nicht das Gefühl hat, dass das eigene Kind hier anderen Kindern nachsteht, sei es, weil formalisierte Mathematik in unseren Breiten eben zu den Kulturtechniken gehört, oder sei es, weil man für sein Kind in beruflicher Hinsicht später Nachteile befürchtet – für Mathe werden aus diesen Gründen immer wieder gerne Lernmaterialien herangezogen, man wirft dem jungen Menschen mehr oder weniger geschickt Köder hin und versucht häufig auch, feste Mathe-Lernzeiten zu etablieren. Natürlich sträuben sich die jungen Freilerner oft genauso dagegen wie ihre beschulten Kollegen – viele Familien geben in dem Punkt schließlich auf, andere hangeln sich so durch. Ein Reibungspunkt im Familienalltag wird das Thema dann vermutlich immer bleiben. Manche Jugendliche begeistern sich aber irgendwann für formale Mathematik, oder sie lernen aus eigenem Antrieb den Schulstoff, weil sie ihn für einen angestrebten Abschluss brauchen.
Typ 3: Die mit dem Lern-Material
Und auch dieser „Typus“ ist recht häufig. Man hat sich als Familie dazu entschlossen, dass die Kinder freilernen dürfen und als erster Schritt, um dem ganzen auch einen guten Startschuss zu geben, werden möglichst interessante, vielseitige, reizvolle Lernmaterialien angeschafft. Mutter und Vater beschäftigen sich meist selbst einige Zeit damit, um zu zeigen, wie man sich damit beschäftigen kann. Natürlich lautet die Hoffnung dabei: „Das ist ja total interessant! Magst du nicht auch mal einen Blick hinein werfen?“ Die Krux ist hierbei erfahrungsgemäß aber, dass der Nachwuchs meist recht schnell den Braten riecht, weil auch hier das Lernen von außen gelenkt werden soll, wenn auch sanft und ohne richtigen Zwang.
Man steht dann vor der Wahl sich zu ärgern oder den Versuch aufzugeben – wenn man nicht ganz zum erzwungenen „Unterricht“ übergehen will, was in den Familien, die mir bekannt sind, aber praktisch nie passiert. Die Erfahrung, die die Familien machen, ist eher, dass man Freiheit nicht teilen kann; „ein bisschen“ Manipulation funktioniert einfach nicht. Die meisten Freilerner-Familien berichten entsprechend auch, dass die Anschaffung solcher Materialien im Rückblick eigentlich Geldverschwendung war und dass ihre Töchter und Söhne nicht wirklich damit gearbeitet haben. Das alles ist übrigens nicht mit dem Anschaffen von Literatur und Material für Themen zu verwechseln, für die das freilernende Kind gerade so richtig brennt. Solches Material wird dann ausgiebig benutzt, selbst wenn die Quelle noch so schwer zugänglich und das Buch noch so staubtrocken ist. Echter Wissensdurst adelt eben fast alles zu gutem Lehrmaterial. Vermeintlich gutes Lehrmaterial erzeugt hingegen noch lange keine Lernlust. Es funktioniert eben nur in die eine Richtung.
Typ 4: Rousseaus Erben
Jean-Jacques Rousseaus war ein Philosoph, Schriftsteller und Pädagoge des 18. Jahrhunderts und gilt als einer der wichtigsten Wegbereiter der französischen Revolution. Als sein einflussreichstes Werk gilt „Émile oder Über die Erziehung“, worin er den fiktiven Jungen Émile und seinen idealen Bildungsweg beschreibt. Rousseaus veröffentlichte dieses Buch zu einer Zeit, als vielen Menschen die Natur des Kindes als unvollkommen und gefährlich galt, weshalb sie frühestmöglich in vernünftige, gesellschaftsfähige Bahnen gelenkt werden müsse. Rousseau hingegen vertrat die These, dass Kind und Natur alles andere als unvollkommen seien, sondern dass im Gegenteil die Gesellschaftsstrukturen seiner Zeit mit all ihren Zwängen und Konventionen das eigentliche Übel seien. Die unverdorbene, eigentliche Natur des Menschen müsse sich frei entfalten. Um nun den gesellschaftlichen Teufelskreis zu durchbrechen, solle ein Kind wie der fiktive Émile absolut naturnah und gesellschaftsfern aufwachsen. Ihm sollen keinerlei Grenzen gesetzt und keine Vorgaben gemacht werden. Erst wenn ein Kind im Jugendalter über genug geistige Reife und Festigung verfüge, solle es in die Gesellschaft eingeführt werden, wo es dann bestens bestehen könne, während es sich seine moralisch gute Natur erhalten habe.
Was Rousseaus bis heute sehr umstritten macht, ist die Tatsache, dass er dabei als Erzieher stark manipulativ vorging. Er betont immer wieder wie wichtig es sei, dass Émile sich zwar frei bewegen darf, dass der ihm gesteckte Rahmen jedoch bis ins Kleinste vordefiniert sein soll. Dass er nur das aus freien Stücken erleben, sehen, erfahren soll, was sein Erzieher hierfür vorgesehen hat. Am wichtigsten hierbei sei vor allem, dass ein Kind die Manipulation nicht bemerken darf.
Ähnlich sehen dies auch einige wenige Eltern freilernender Kinder.
Innerhalb eines gewissen, vordefinierten Rahmens können die Kinder sich frei entfalten und gemäß ihrer Interessen beschäftigen. Als schädlich angesehene Einflüsse werden aber vom Nachwuchs möglichst ferngehalten. Gesellschaftlicher Kontakt wird hier häufig von den Eltern vorgefiltert. Teilweise lassen sich in dieses Rousseau-Modell aber auch Familien einordnen, die radikal konsumfrei oder plastikfrei leben wollen, einige Familien, die mit ihren Kindern bewusst möglichst naturnah oder als Selbstversorger leben oder die es anstreben, in einer Art dörflichen Gemeinschaft gemeinsam mit anderen Freilernern zu leben, die oft ähnliche Überzeugungen haben (z.B. vegetarische Ernährung, Konsumkritik etc.). Dies sage ich hier durchaus wertfrei, denn natürlich filtern auch „bürgerlichere“ Familien die Umwelt ihrer Kinder vor, bis zu einem gewissen Grad ist das ja unvermeidlich. Manche „Aussteiger“ unter den Freilernern betonen dieses Element aber besonders. Das Rousseau-Modell ist sicherlich auch übertragbar auf einige liberalere unter den eher religiös-motivierten Homeschooler-Familien. Von echtem Freilernen kann man bei diesen jedoch nicht mehr wirklich sprechen.
Typ 5: Hm, der Weg dahin ist mir ja egal, aber ein gutes Abi erwarte ich schon von dir
Bei diesem Typus handelt es sich um Familien, wo den Eltern der Schulabschluss sehr wichtig ist, als Voraussetzung für eine gute berufliche Laufbahn und/oder einen gewissen sozialen Status. Oft sind Eltern vertreten, die merken, dass das Kind in der Schule unglücklich ist, vielleicht von seinen Mitschülern drangsaliert wird oder schlichtweg unterfordert ist vom Unterrichtsstoff. Viele Eltern dieses Typus entscheiden sich auch gerne für eine teure Privatschule. Diese Möglichkeit steht aber natürlich vielen Menschen in finanzieller Hinsicht nicht offen. Recherchiert man nun weiter und stößt auf das Freilernen, ist das für viele dieser ehrgeizigen Eltern der ideale Weg. Gerade Menschen mit (wirtschafts-)liberaler Gesinnung erscheint das Freilernen sehr attraktiv. Viele beginnen vielleicht auch mit einer Art Homeschooling und werden dann nach und nach freier.
Um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, schlagen viele dieser Familien oftmals eher den Weg ins Ausland ein. Es gibt aber umgekehrt auch Eltern, die aus Überzeugung zum Freilernen kommen und dann aber merken, dass der Schulabschluss ihnen doch wichtiger ist, als sie dachten. Einen gewissen Druck in dieser Richtung verspürt sicher fast jeder. Da ist es ähnlich wie mit Mathe – das Loslassen, was den Abschluss angeht, ist schwer, und wenige haben das Glück, über grenzenloses Vertrauen zu verfügen, dass das Kind seinen Weg schon macht ob mit oder ohne Abschluss mit 18 Jahren.
So weit zu meiner kleinen Typisierung. Ich hoffe sehr, es fühlt sich gerade niemand auf den Schlips getreten. 😉 Wie alle „Typen“ gibt es auch diese fünf in der Realität kaum in Reinform. Du wirst vielleicht schon beim Lesen gemerkt haben, dass sich in Dir selbst Aspekte verschiedener Typen finden. Die „Zusammensetzung“ der Typen in dir wird sich während eurer Freilerner-Karriere sicherlich auch ändern, und darum ist es wichtig, keinen dieser Typen einfach rundheraus abzulehnen, und ich würde persönlich auch sagen: sich umgekehrt nicht blindlings auf einen der Typen, der man selbst sein will, zu versteifen. Diese Dinge muss man mit der Zeit herausfinden.
Generell ist zu beobachten, dass, egal aus welcher Denkrichtung man kommt, die Tendenz bei allen Familien eigentlich immer in Richtung Radical Unschooling geht. Das berichten sogar Familien, die aus ihrer Weltanschauung heraus eher mit Homeschooling begonnen haben. Im direktem Umgang mit dem kindlichen Lernen fällt dem meisten Eltern irgendwann auf, dass sich der Nachwuchs gut bildet, ohne dass von außen nachgeholfen oder gar manipuliert wird. Auch der Widerstand, den die Kinder gegen fast alle Formen von Belehrung leisten, spielt natürlich eine Rolle.
Aus diesem Grund kann man sicherlich sagen, dass der allergrößte Teil innerhalb der Freilerner-Gemeinschaft inzwischen dieser Denkrichtung des Radical Unschooling angehört.
Wenn du dich näher mit dem Alltag freilernender Familien beschäftigen möchtest, kann ich dir die folgenden Bücher wärmstens empfehlen:
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Dr. Alan Thomas – Bildung zu Hause: Eine sinnvolle Alternative
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Dr. Alan Thomas & Harriet Pattison –
Informelles Lernen: Wie Kinder zu Hause lernen
Wissenswertes und Bedenkenswertes im Freilerner-Alltag:
Im Folgenden möchte ich einige Aspekte behandeln, die im Leben von freilernenden Familien oft besonders wichtig sind. Einige davon haben mit der eigentlichen Bildung gar nicht unmittelbar zu tun, sie sind aber dennoch Besonderheiten im Leben von Freilernern.
Deschooling oder Hilfe, mein Kind hat zu nichts Lust!
In der einschlägigen Freilerner-Literatur ist immer wieder vom sogenannten Deschooling zu lesen.
Dieser Begriff beschreibt eine Phase, in die junge Menschen häufig eintreten, wenn sie über einen langen Zeitraum fremdbestimmt waren und plötzlich wieder weitgehend aus eigenen Interessen heraus agieren können.
Manch einer kennt das vielleicht noch aus der Zeit des eigenen Studiums, als man die ersten zwei Semester kaum im Hörsaal verbracht hat und lieber einen drauf gemacht hat oder sich mit Computerspielen vergnügt hat. Andere werden sicherlich frischgebackene Rentner kennen, die erst mal ein paar Wochen lang von der Bildfläche verschwinden, um in Jogginghose Zeit vor dem Fernseher zu verbringen. Jeder kennt das Phänomen, dass man sich für den eigenen Urlaub immer ganz viel vornimmt und dann meist doch nur Müßiggang betreibt.
Genau so ist es eben auch bei jungen Menschen, die schon einen längeren Zeitraum die Schulbank drücken mussten. In der Schule hat das Kind gelernt, dass nur das von Belang ist, was der Lehrer erwartet – was gerade das von außen vorgegebene Thema ist. Es ist also kein Wunder, wenn es sich erst einmal mit nichts mehr beschäftigen möchte, was nur annähernd nach Lernen aussieht, sondern erst einmal all das machen will, wofür es zuvor nicht genug Zeit hatte. Computerspiele, Fernsehen, Comics lesen, sich mit Freunden treffen, Fußball spielen, singen, tanzen, malen und sehr häufig die Nacht zum Tag machen und bis in die Puppen schlafen. Irgendwann wirst du feststellen, dass auf einmal wieder neue Sachen ins Programm aufgenommen werden: Bücher lesen, Fragen stellen, freiwillig im Haushalt mithelfen, tüfteln, gärtnern, richtig umfangreiche Projekte auf die Beine stellen.
Wie lange dies dauert, lässt sich nicht pauschal sagen. Zumeist ist in der Literatur von ein paar Monaten die Rede. Aber es kann länger dauern. Deshalb möchte ich hier ganz eindringlich allen Eltern von lange beschulten Kindern den Rat geben: Habt Vertrauen in euer Kind und drängelt nicht. Es wird seine natürliche Neugier und seinen Lebensdurst wieder erlangen. Gebt ihm ein bisschen Zeit.
Sozialisation oder Wo treffen wir Kinder und andere Menschen:
Auch das ist im Freilerner-Kontext eine häufig geäußerte Frage. Es ist in den Köpfen unserer Gesellschaft ein solch stark ausgeprägter Glaubenssatz, dass die Schule dazu dient, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen und Freundschaften zu schließen. Das ist natürlich Quatsch. Dies war niemals Aufgabe und Sinn der Schule. Im Gegenteil bietet die Schule doch nur sehr schlechte Möglichkeiten echte Freundschaften zu schließen. Der Großteil der Schulzeit ist mit Unterrichtseinheiten ausgelastet, in denen die private Interaktion der Schüler untereinander mehr als schwierig und zudem noch unerwünscht ist. Zensuren und Lehrergunst fördern den Konkurrenzkampf der Kinder. Gleichaltrigen-Orientierung und Gruppenzwang verhindern, dass man sich so gibt wie man ist, sondern fördern im Gegenteil dass man versucht so zu sein wie alle anderen. Abweichler werden schonungslos gemobbt und ausgegrenzt. Und wenn hier doch die ein oder andere gute Freundschaft entsteht ist dies sicherlich nicht dem Umstand Schule zu verdanken. Hätte man eben jene Person im Sportverein, in der Nachbarschaft, im Urlaub, im Schwimmbad kennen gelernt, hätte sich sicherlich eine genauso gute Freundschaft daraus entwickelt.
Und genau das ist der springende Punkt: Wo immer ein Mensch sich bewegt, wird er auf andere Menschen treffen. Und wenn er sich an Plätzen aufhält, die er mit Begeisterung besucht und dort auf andere Menschen trifft, mit der gleichen Begeisterung, sind die Aussichten umso besser hier wahrhaftige, intensive, vielleicht lebenslange Freundschaften zu schließen. Und das Beste daran ist, dass wir nicht begrenzt sind auf Freunde in unserer Altersklasse sondern eben auch echte, tiefe Freundschaften mit Andersaltrigen schließen können.
Will heißen, geht raus in die Welt und folgt euren Interessen. Die Freunde kommen wie von selbst.
Jetzt sagst du vielleicht gerade: „Naja, mag schon stimmen. Aber da draußen ist ja niemand. Es sind alle weg. Die ganz Kleinen sind im Kindergarten, die etwas Größeren in der Ganztagsschule, die Erwachsenen im Erwerbsberuf unterwegs und die Alten im Seniorenheim.“ Darauf möchte ich erwidern: Ja, du hast leider recht. Aber nur teilweise. Es gibt zum Glück immer noch Ausnahmen. Es gibt Ferienzeiten, Wochenenden, Leute die Urlaub haben und auch im ganz normalen Alltag nach wie vor Menschen, die ihr Leben nicht in der Institution Arbeit/Schule etc. fristen. Zum Glück gibt es auch noch keine Krippen- oder Kitapflicht. Auch die Ganztagsschule ist noch kein Massenphänomen und es gibt immer mehr Menschen, die sich in ihrem Konsumverhalten umstellen und auf Teilzeitarbeitsmodelle umswitchen, Elternzeit in Anspruch nehmen, sich selbstständig machen etc.
Es gibt immer noch die Möglichkeiten ‚da draußen’ Menschen zu treffen und diese Menschen sind sicherlich alle froh, wenn sie auch dich endlich treffen können. Geh mit gutem Beispiel voran und gewinne ‚da draußen’ wahre Freundschaften für’s Leben.
Weitere Tipps um Leute zu treffen, findest du außerdem im vorherigen Abschnitt:
Schritt 2: Vernetzt euch!
Computer und andere Medien oder:
Hilfe, mein Kind ist spielsüchtig!
Eine häufig geäußerte Frage von Menschen, die anfangen sich mit freier Bildung zu beschäftigen, lautet: Wie lange sollte mein Kind denn am Computer sitzen dürfen, wie lange an der Konsole spielen, wie viel fernsehen?
Ich kenne hierzu keine Langzeitstudie, die ich dir nun vorstellen könnte. Was ich dir aber sagen kann, ist, dass die meisten Freilernerfamilien vergleichsweise gelassen mit dem Thema umgehen. Viele Familien berichten, dass sie es den jungen Menschen selbst überlassen, wie oft sie Computer spielen und wie der sonstige Medienkonsum gestaltet wird. Berichtet wird auch meist, dass mit dieser Freiheit überraschend verantwortungsvoll umgegangen wird. Vielleicht gibt es immer mal wieder Phasen, in denen der Computer im Dauerbetrieb läuft – die wechseln dann aber mit langen, langen Phasen, wo er kaum genutzt wird. Manche Familien, die ältere Kinder aus der Schule nehmen, berichten, dass ihr Nachwuchs in der ungewohnten Umgebung zunächst regelrecht im Computer „versinkt“, das ist für die sogenannte Deschooling-Phase, die hier bereits erwähnt wurde, nicht untypisch und ändert sich wieder, wenn der junge Mensch in seinem neuen, schulfreien Leben „angekommen“ ist.
Garantien kann natürlich, wie in allen Bereichen niemand geben. Man sollte aber auch nicht vergessen, wie unglaublich lerhrreich Computer, Smartphone, Fernseher und Co. sein können. Was für einen Schatz an Wissen sie bergen, was für tolle Möglichkeiten zur Kommunikation sie bieten, welch spannende Abenteuer man virtuell mit ihnen erleben kann. Man muss sich außerdem vor Augen halten, dass Kinder am liebsten das tun wollen, was sie bei Erwachsenen beobachten. Unsere Kinder sehen uns jeden Tag auf dem Smartphone tippen, am Laptop sitzen, sie wissen ganz genau, dass ein Großteil von uns inzwischen sein Geld damit verdient, dass wir vor Bildschirm, Maus und Tastatur sitzen.
Blöd wären sie, wenn sie uns darin nicht nacheifern wollen würden.
Eine kleine Anekdote möchte ich noch aus meinem eigenen Leben beisteuern: Meine Tochter ist aktuell dreieinhalb Jahre alt und wird in ihrem Medienkonsum gar nicht beschränkt. Sie darf fernsehen, was und wann immer sie mag und sie bekommt z.B. mein Handy, wann immer sie möchte (wenn ich nicht gerade telefoniere…). Du kannst mir glauben, dass sie ein total aufgewecktes, schlaues, gut entwickeltes, kleines Mädchen ist.
Wenn sie genug hat, schaltet sie den Fernseher selbst aus. Oft legt sie das iPhone nach ausgiebigem Puzzeln einfach auf den Tisch, schnappt sich ihr Laufrädchen und geht damit nach draußen in den Garten.
Ihre sprachliche Entwicklung ist dabei wirklich weit fortentwickelt und bemerkenswert. Sie sieht z.B. leidenschaftlich gern Disney-Filme und rezitiert seit sie dreieinhalb ist ganze Filmpassagen auswendig. Ebenso tippt sie seit neuestem die Namen ihrer Lieblings-Youtube-Videos selbstständig mit Hilfe der Autovervollständigung ins Handy ein.
Den Druck abfedern:
Natürlich will, wer seinem Kind nicht länger den Schulbesuch zumutet, meistens Druck loswerden, der vorher auf der Familie und vor allem dem Kind lastete. Man sollte sich trotzdem der Tatsache bewusst sein, dass auch Freilernen fast immer mit einer gehörigen Portion Druck einhergeht. Gerade hier in Deutschland, wo das schulfreie Leben auch noch ein gesetzwidrig ist, sollte dieser Aspekt nicht unterschätzt werden. Es kann passieren, dass auf einmal enge Freunde nichts mehr mit einem zu tun haben wollen. Womöglich wird man erst mal von der Nachbarschaft geschnitten. Deine Schwiegereltern lassen vielleicht keine Gelegenheit aus, dein Kind zu überreden, es doch noch mal mit der Schule zu versuchen etc.
Erfahrungsgemäß gibt sich das alles mit der Zeit, aber man muss das dennoch erst mal aushalten.
Im weiteren Verlauf kommt dann oft noch der Erwartungsdruck an die Leistungen des Sohnes oder der Tochter hinzu. Selbst wenn es euch eigentlich egal ist, so ist es doch sehr wahrscheinlich, dass ihr und auch euer Kind dennoch irgendwie bemüht seid, nach außen hin ein „gutes Bild“ im Sinne schulischer Leistungsfähigkeit abzugeben. Vielleicht habt ihr ja auch selbst immer wieder noch die Schule im eigenen Kopf und denkt phasenweise: „Verdammt, langsam müsste er/sie doch wirklich besser schreiben können“, oder was auch immer. In jedem Fall werden die Bildungsfortschritte immer im Fokus eures Umfeldes stehen. Wenn sich Behörden wie zum Beispiel das Jugendamt einschalten, steigt dieser Druck noch einmal deutlich. Zu guter Letzt darf man folgendes nicht vergessen: Problematische Zeiten gibt es überall mal. Das kommt, wie man so schön sagt, in den besten Familien vor. Speziell bei einer Freilerner-Familie wird das Umfeld höchstwahrscheinlich viele Probleme auf das Freilernen zurückführen. Es ist daher wichtig, dass ihr eurem Sohn oder eurer Tochter stets den Rücken stärkt, selbst über diese Umstände und möglicherweise den Anteil, den Ihr selbst daran habt, reflektiert und dass Ihr untereinander und mit eurem Umfeld bestenfalls in einem offenen und freundlichen Austausch bleibt, wann immer sich die Problematik stellt.
Und so funktioniert das mit dem Lernen:
Das Frei-sich-Bilden eines jungen Menschen kann man sich am besten als organisch fließenden Prozess vorstellen. Auf seinem Lebensweg kommt der Freilernende immer wieder mit Themen und Dingen in Berührung, die sein Interesse wecken. Tausendfach! Hierzu werden dann eigene Überlegungen angestrengt, es werden Fragen gestellt, es wird dazu gelesen, Videos werden angeschaut, es wird experimentiert, es werden Experten konsultiert, es wird in der Praxis erprobt usw. Aus einigen dieser Interessensgebiete können richtige, langwierige Projektarbeiten entstehen, andere werden nur so nebenbei mit behandelt, kurz gestreift und wieder fallengelassen. Ganz, ganz viel aber wird einfach unbewusst mit erschlossen, ohne das jemals besonderes Augenmerk darauf gelegt wurde.
Typisch ist auch, dass beim Weg der informellen Bildung oftmals regelrechte Kausalketten entstehen, die den Rahmen der traditionellen Schulfächer oft mehrfach überspringen. Ich möchte hier ein Beispiel geben: Über die Beschäftigung mit antiken Kulturen stolpert der jungen Freilerner unter anderem auch über klimatische Bedingungen im Mittelmeerraum, Schiffsbau, Demokratieentwicklung, Kriegstechnik, griechische Mythologie, früher Kolonialismus, olympische Spiele, die Rolle der Frau im Wandel der Zeit, Philosophie, Bronzegewinnung, Töpferkunst, Dörrtechniken und noch vieles mehr. Alle diese Gebiete können bei ihm genau so viel Faszination entfachen wie schon das Ausgangsthema, so dass er sie nun auch alle nach und nach weiter erschließen wird. Eventuell kommt man über die Dörrtechnik dazu, es selbst zu versuchen, und von da aus wieder zum Kochen, und von da aus dazu, wie ein Herd funktioniert, und so weiter und so fort – die Möglichkeiten sind endlos.
Dem einen Thema widmet sich der junge Mensch vielleicht vorrangig mittels Lesen, zum nächsten wird ein Theaterstück besucht – oder gleich selbst verfasst. Zum dritten werden immer wieder und wieder Zeichnungen angefertigt. Im Grunde unterscheidet sich das Vorgehen beim Freilernen nicht wirklich stark vom Vorgehen, dass jeder Mensch wählt, der sich für ein bestimmtes Themengebiet interessiert, beim Anschauen einer informativen Fernsehsendung etwas aufschnappt oder in einer anregenden Unterhaltung neues Wissen für sich erschließt. Der Unterschied ist nur, dass der Freilerner erstens viel mehr Zeit hat, sich mit etwas zu beschäftigen und dass er daher sowohl qualitativ als auch quantitativ mehr erschließen kann und dass er zweitens nicht so sehr mit dem irrigen Glaubenssatz belastet ist, dass wirklicher Wissenserwerb eben nur schulisch funktioniert und mit harter Arbeit, Entsagung und Bewertung von außen verbunden sein muss.
Dokumentation des Gelernten:
Dieser Punkt wird von verschiedenen Freilerner-Familien sehr unterschiedlich gehandhabt. Manche Familie legt viel Wert auf eine ausgiebige Dokumentation, manch andere gar keinen.
Material zur Dokumentation fällt dabei eigentlich überall genug an. Ein freilernender junger Mensch produziert über seine Jugendzeit in der Regel etliches an selbst Geschriebenem, an Malereien, Basteleien, Handwerklichem, Fotografien, Filmaufnahmen, Computerdateien und so weiter. In welchem Maße diese Dinge aufgehoben werden, hängt sicherlich von der Sentimentalität, dem Organisationstalent und den räumlichen Möglichkeiten der Familie ab. Es gibt Familien, in denen die Eltern oder die jungen Menschen selbst Tagebuch über die Lernthemen führen. Gerade wenn die Familie sich in der behördlichen Auseinandersetzung befindet oder diese bald befürchtet, wird eine Dokumentation oft genutzt, um über Beweise für das Bildungsniveaus zu verfügen.
Nutzt man zum Teil formalisiertere Lernprogramme wie zum Beispiel das Clonlara-Programm oder das Programm von Kern-Bildung, erhält man vom zuständigen Lernberater auch regelmäßig Lernberichte und auf Wunsch sogar Zeugnisse.
Betreuung beim Freilernen:
Inwiefern ein junger Freilerner auf seinem individuellem Bildungsweg von anderen unterstützt wird, ist höchst unterschiedlich. Gerade bei noch jungen Kindern wird dies stärker ausgeprägt sein, bei älteren, selbstständigeren umso weniger. Erfahrungsgemäß machen die jungen Freilerner selbst sehr deutlich, wann und wo sie Unterstützung benötigen. Bei der Betreuung kommt es eigentlich nicht so sehr darauf an, dass man auf Anhieb alle Fragen richtig beantworten können muss oder zu den aktuellen Interessensgebieten nun irgendwie „unterrichtet“. Auch dass man seinem Kind ständig einen Zirkus an möglichen Beschäftigungsthemen offeriert, ist gar nicht nötig. Es kommt mehr darauf an, Unterstützung beim Recherchieren zu bieten, indem man etwa ein Buch zu bestimmten Themen besorgt, mit dem Kind Büchereien, Museen und ähnliches besucht, wenn es dort hin möchte, und indem man generell immer die Möglichkeit anbietet, dass der Freilerner seine Themen und Interessen im Gespräch reflektieren kann. Ansonsten ist es wohl am wichtigsten, ein ganz normales Leben zu führen und so oft wie möglich mit dem Kind in die echte Welt hinauszugehen bzw. es hinausgehen zu lassen. Faktisch bedeutet dies bei kleineren Kindern häufig, dass ein Elternteil keiner Erwerbstätigkeit nachgeht oder zu Hause in kleinerem Umfang selbständig arbeitet. Ist der freilernende Jugendliche schon etwas älter, kommt es aber auch häufig vor, dass beide Elternteile erwerbstätig sind. Bei reisenden Familien ist es zumeist so, dass die Eltern unterwegs selbstständig arbeiten und nebenher für die Bildungsbelange ihrer Kinder zur Verfügung stehen. Immer wieder wird von aktiven Freilernern betont, dass eine pädagogische Vorbildung der Eltern weder nötig noch von Vorteil ist.
Wer etwas mehr Unterstützung in Anspruch nehmen möchte, ist mit den Lern-Programmen von Kern-Bildung oder der deutschsprachigen Dependance der Clonlara-Schule aus Michigan, USA gut beraten. Beide Programme erarbeiten mit dem jungen Freilerner individuelle Lernpläne und geben immer wieder Orientierung.
So ‚teuer’ ist Freilernen:
Diese Frage lässt sich kaum pauschal beantworten. Prinzipiell kann man auch mit sehr wenig Geld seinen Kindern freie Bildung ermöglichen. Es ist sogar geradezu bemerkenswert, dass viele aktive Freilerner-Familien finanziell nicht allzu gut aufgestellt sind, teilweise sogar regelrecht konsumverweigernd und minimalistisch leben. Gerade hier in Deutschland mit einer hervorragenden Infrastruktur in Sachen Bibliotheken, städtischen Museen, öffentlichen Sportstätten und sonstigen geförderten Kulturangeboten kann man sehr günstig oder sogar kostenfrei entsprechende Angebote nutzen. Ein Internetanschluss und ein älterer Computer reichen dann schon völlig aus, um ein reichhaltiges Wissensspektrum zu nutzen. Viele Freilerner sind außerdem auf geradezu geniale Art und Weise erfinderisch, wenn es darum geht, aus alten und frei verfügbaren Dingen erstaunlichste Lernmaterialien zu basteln. Als der beste Lehrmeister gilt zudem vielen die Natur, die in unseren Breiten zum Glück noch reichlich und kostenfrei vorhanden ist.
Sonstige Stichworte, die einer Freilerner-Familie das Leben gut und günstig machen können, sind natürlich Antiquariat, Flohmarkt, Second Hand, Foodsharing und Co. – und natürlich generell: Ausleihen, Austauschen, Augen offen halten und Kontakte knüpfen. Alleine wie viel Spaß es machen kann und wie lehrreich es ist, hier kreativ zu sein, sollte dabei nicht außer Acht gelassen werden.
Der besondere Betreuungsaspekt, mit dem das Freilernen oftmals einhergeht, sorgt häufig dafür, dass eine Familie mit nur einem Einkommen rechnen muss. Ich selbst kann jedoch bestätigen, welche erstaunlichen Sparpotentiale sich gerade daraus ergeben, dass ein Elternteil nicht arbeiten geht und entsprechend mehr Zeit hat, um clever einzukaufen, selbst zu kochen etc. Es wird kein zweites Auto benötigt, oft zahlt man weniger Steuern etc.
Auch nicht zu unterschätzen ist, dass viele freilernende Jugendliche weniger dem Gruppendruck ihrer Altersgenossen unterliegen. Das bedeutet öfters, dass die Frage teurer Markenklamotten, angesagter Rucksäcke, des hippsten Pausensnacks und der modernsten Unterhaltungselektronik sich nicht so stellt wie bei vielen anderen Familien.
Wo finden wir Lehrmeister:
Wenn man die Lebensgeschichte von André Stern aufmerksam verfolgt, drängt sich der Eindruck auf, dass ihm eigentlich an allen Ecken und Enden Experten von außen zur Verfügung gestanden haben, die ihn in seinen jeweiligen Interessensgebieten gefördert und ihm professionelle Bedingungen zur praktischen Beschäftigung geboten haben. Diese Vorstellung ist bei weitem überzogen. In einem fünfundvierzig jährigen Leben wird dies sicherlich vorgekommen sein, mit Sicherheit ist es aber nichts, wovon man ausgehen oder worauf man sich verlassen kann.Kürzlich erst habe ich im Internet den bestürzten Bericht einer Mutter gelesen, die sinngemäß berichtete, dass der fünfjährige Sohn sich gerade massiv für Schließmechanismen interessiere und sie nun losgelaufen sei, um einen Schlossmacher zu finden, der ihn über die Schulter schauen lässt. Ohne Ergebnis. Alle hätten sie wieder weggeschickt.
Ich glaube allerdings auch, dies sollte man nicht überbewerten. Nicht jede kleinste Äußerung des kindlichen Interesses benötigt gleich professionelle Unterweisung. Eltern sind hier, so glaube ich, gut beraten, ein bisschen die Kirche im Dorf zu lassen. Mit steigendem Alter und bei wirklich starken Interessens-Schwerpunkten werden sich fast automatisch entsprechende Kontakte anbahnen. Auch wird solch eine Praktikumsmöglichkeit sicherlich eher gewährt werden, wenn der junge Mensch selbst in der Lage ist, hier vorstellig zu werden und nicht seine überfürsorgliche Mutter vorsprechen lässt.
Wer André Stern genau verfolgt hat, weiß zudem, dass auch er ziemlich lange erfolglos auf der Suche war und sogar bis in die Schweiz musste, um schließlich im Alter von 21 Jahren „seinen“ Gitarrenbaumeister zu finden. Gewöhnlichere Lehrangebote zu finden, ist hingegen tatsächlich für niemanden weiter schwierig. Es gibt in Deutschland ein so umfangreiches Angebot an Volkshochschulen, Sportvereinen, Chören, Naturverbänden und vielem mehr, dass hier für jeden Freilerner das richtige dabei sein sollte.
Sonderfall Deutschland – Die Auseinandersetzung mit den Behörden:
Alle grundsätzlichen Fakten und Abläufe hierzu habe ich auf der Seite Schritt 3: Plant euren Weg unter dem Punkt „Der zivile Ungehorsam“ schon recht genau erklärt. Ergänzen möchte ich hier noch, welche Auswirkungen diese Auseinandersetzungen unmittelbar auf das aktive Freilerner-Leben haben können.
Die Zeiten in denen die Auseinandersetzung mit den Behörden starke Auswirkungen auf das Alltagsleben einer freilernenden Familie hat, sind überraschenderweise eher selten. Häufig vergehen sehr lange Zeiträume, bis der nächste Bußgeldbescheid eintrifft oder bis ein Gerichtsverfahren anläuft oder der nächste Termin dafür anberaumt ist. Auch das Jugendamt hat anderes zu tun, als alle paar Tage vorbei zu kommen oder zum Gespräch zu laden. Das heißt, dass man selbst in harten Auseinandersetzungen immer wieder lange Zeiträume erlebt, in denen das Leben wirklich völlig ungestört gelebt werden kann.
Auch die Angst vor der polizeilichen Zuführung der Kinder zur Schule ist weitestgehend unbegründet. Ganz wenige Familien sind mir bekannt, bei denen es bisher überhaupt dazu kam, dass die Polizei morgens einmal vor der Tür stand. Ein freundliches Gespräch mit den Polizisten kann dann auch oft schon genügen, damit diese unverrichteter Dinge wieder fahren. In einem mir persönlich bekannten Fall ist der Vater eines jungen Freilerners einmal selbst mit den Polizisten zur Schule gefahren, um in Ruhe mit der Schulleitung zu sprechen, woraufhin auch hier erst einmal keine weiteren Maßnahmen erfolgten.
Einige Familien berichten inzwischen sogar davon, dass sie die Gespräche mit den Behörden als konstruktiv und die Kommunikation insgesamt als aufgeschlossen und durchaus wohlwollend empfinden. Ich habe sogar schon gehört, dass es für manche Familien regelrecht vergnüglich ist, die behördlichen Mitarbeiter so völlig ratlos zu sehen, und einige berichten davon, dass sie die Auseinandersetzungen inzwischen gar als wichtige emanzipatorische Entwicklungsschritte in ihrem Leben betrachten, aus denen sie viel Stärke und Selbstbewusstsein gewinnen konnten.
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Ich hoffe, ich konnte euch hier einen guten Überblick zu den Besonderheiten im Leben einer aktiven Freilerner-Familie geben. Wenn euch hierbei noch wichtige Punkte fehlen oder irgendetwas unklar geblieben ist, lasst es mich gern wissen unter: kontakt@freilerner-kompass.de.