Schritt 4: Holt euer Umfeld ab

Inzwischen seid ihr euch eurer Sache schon einigermaßen sicher. Wenn eure Kinder noch nicht schulpflichtig sind, habt Ihr eine grobe Strategie entwickelt, wie ihr vorgehen wollt, wenn euer Sohn oder eure Tochter den künftigen Schulbesuch verweigern sollte. Falls ihr schon akut mit eurem schulpflichtigen Kind betroffen seid, habt ihr einen konkreten Lösungsweg im Auge. In beiden Fällen empfehle ich euch im nächsten Schritt, euer näheres Umfeld einzuweihen.

Viele von euch höre ich gerade schlucken. „Wie soll ich bloß mit meiner Schwiegermutter darüber reden?“ „Was werden meine Eltern sagen?“ „Wie wird meine beste Freundin darauf reagieren? Seit wir beide Kinder haben, driftet die Freundschaft sowieso schon ziemlich auseinander, weil wir beide so unterschiedlich mit unseren Kindern umgehen.“ All das kenne ich persönlich auch. Genau diese Gedanken habe ich mir auch gemacht und für meinen Mann war es noch viel schlimmer als für mich. Er hatte an dem Punkt schon fast panische Angst. Um es gleich vorwegzunehmen: Bei uns weiß inzwischen jeder bescheid, und alle haben es für ihre jeweiligen Verhältnisse sehr gut aufgenommen und respektieren unsere Entscheidung.

Dennoch lautet eure erste Frage, gerade wenn ihr noch nicht akut betroffen seid, vielleicht jetzt: „Warum soll ich überhaupt (jetzt schon) mit meinem Umfeld darüber reden?“

Der erste und wichtigste Grund aus meiner Sicht: Ihr werdet euch mit ziemlicher Sicherheit hiernach total erleichtert fühlen. Wer übers Freilernen ernsthaft nachdenkt, entfernt sich weit vom gesellschaftlichen Mainstream, und das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, kann belasten – selbst anfänglich kontroverse Diskussionen und Gespräch mit anderen helfen dabei, dieses Gefühl zu überwinden, weil man rasch merkt: Ich habe Argumente, ich kann das vertreten, was ich fühle, und ein Teil davon kommt auch an.

Hinzu kommen praktische Gründe: Möglicherweise werdet ihr häufig unterwegs sein, um euch mit anderen Freilerner-Familien auszutauschen. Wir z.B. fahren eigentlich ständig zu irgendwelchen abendlichen Vorträgen, Camping-Wochenenden und Nachmittagstreffen. Da bringt euch schon die lapidare Frage nach: „Was macht ihr dieses Wochenende?“ in die Bredouille und wird dann zum Grund, die eigene Mutter, Schwester, Freundin anzulügen. Rasch werdet Ihr den ein oder anderen Regalmeter an Literatur zum Thema selbstbestimmte Bildung angesammelt haben, die muss man dann nicht mehr jedes mal verschwinden lassen, wenn sich Besuch anmeldet oder noch schlimmer: unangemeldet vor der Tür steht. Als wir vor kurzem noch einen Vortrag von André und Arno Stern in Moers besuchten, haben meine Schwiegereltern auf unsere Kinder aufgepasst; meine Mama war auch der Babysitter, als wir zum ersten Mal Bertrand Stern gesehen und gehört haben. Auch hier war klar, wohin wir fahren, es hat also wirklich praktische Vorteile, offen zu sein.

Ein weiterer wichtiger Grund: Ihr bekommt Übung darin, das vorurteilsbehaftete und angstbesetzte Thema argumentativ zu vertreten. Wenn ihr schon zu viel Skrupel davor habt, mit euren Freunden darüber zu sprechen, wie wollt ihr es dann souverän im Behördengespräch hinbekommen?

Bedenkt auch, dass ihr euren Kindern damit ein gutes Beispiel gebt. Ihr demonstriert damit, dass euer Anliegen etwas Legitimes ist, für das man aufrecht eintreten darf, und nichts, wofür man sich schämen und womit man hinterm Berg halten muss. Das alles gilt sogar dann, nein: es gilt um so mehr, wenn ihr euch für den illegalen Weg, „unterm Radar“ in Deutschland zu leben, entscheidet. Gerade dann ist es wichtig, im engen Umfeld, wo man den Leuten vertraut, einen Kreis zu haben, in dem man sich nicht verstecken muss. Den eigenen nahen Verwandten und Freunden z.B. wird das Freilernen ohnehin nicht lange verborgen bleiben, die Heimlichkeit hat hier eine Grenze.

Zu guter Letzt und fast am wichtigsten: ihr gewinnt Verbündete! Wahrscheinlich wird zwar keiner eurer Freunde und Verwandten im ersten Schritt Hurra schreien, wenn er hört, dass ihr eure Kinder darin unterstützt, die Schule zu verweigern und dabei und eventuell sogar das Gesetz zu brechen, aber sie werden sich schneller an den Gedanken gewöhnen, als ihr jetzt vielleicht glaubt. Wenn ihr umsichtig vorgeht und eurerseits behutsam und respektvoll mit ihnen redet, werden eure guten Freunde und engen Verwandten eure Entscheidung bald respektieren und, wenn sie merken, dass die Kinder wachsen und gedeihen, wahrscheinlich sogar sympathisierend unterstützen. Immerhin sind sie ja eure Lieben. (Dass dies nicht für völlig verkrachte Familien gilt oder Menschen, die mit den eigenen Eltern den Kontakt aus irgendwelchen Gründen abbrechen mussten, versteht sich leider von selbst. Es gibt auch Fälle, in denen Familien von nahen Verwandten denunziert wurden. Lasst euch davon nicht abschrecken, denn wie gesagt: Wenn ihr irgendwie näheren Kontakt zu diesen Verwandten habt, werden sie ohnehin bemerken, was Sache ist, und da steht ihr wiederum besser da, wenn ihr frühzeitig offen wart!)

Und schließlich: Ein beliebtes Argument, mit dem gerade Behörden die Schulpflicht verteidigen, ist die vielgepriesene Sozialisation, die man in der Schule durchmacht, bzw. im Gegenzug die Angst vor der Bildung sogenannter Parallelgesellschaften durch Freilerner. Wenn ihr durch eure Offenheit aktiv vorlebt, dass ihr euch weiterhin mit eurem ganz normalen Umfeld umgebt, mit Freunden, deren Kinder selbst zur Schule gehen, mit den Leuten aus eurem Sportverein, mit den freundlichen, türkischen Nachbarn und deren Kindern, mit denen eure Kinder gerne spielen etc., dann habt ihr die besten Argumente auf eurer Seite, um zu demonstrieren, dass diese Ängste vollkommen unberechtigt sind.

Wie aber am besten vorgehen? Ich lege dir gerne dar, wie wir es angestellt haben. Dazu muss man wissen, dass unsere Kinder damals 2,5 und 0,5 Jahre alt waren, der „Ernstfall“ war also noch nicht eingetreten:

Zunächst einmal haben wir uns nach und nach mit allen nett verabredet. Mit unseren Schwiegereltern haben wir eine Fahrradtour gemacht, meinen Vater zum Frühstücken eingeladen, mit einem befreundeten Pärchen waren wir brunchen usw. Wir haben also für nette Atmosphäre gesorgt und dafür, dass genügend Zeit und Ruhe zum Sprechen da war. Dann sind wir auch nicht gleich mit der Tür ins Haus gefallen, sondern haben erst mal nett geplaudert. Es wurde mit den Kindern gespielt, man hat erst mal in Ruhe gegessen etc. Wenn dann ein ruhiger Moment erreicht war und die Kinder ins Spiel vertieft waren oder ein Nickerchen hielten, haben wir in aller Regel so eröffnet: „Hört mal, wir wollen mit euch noch etwas wichtiges besprechen. Es fällt uns nicht ganz leicht das zu sagen. Habt bitte Verständnis, wenn wir hier jetzt ein wenig rumdrucksen.“ Meist kam dann darauf eine Erwiderung wie: „Oh, ihr lasst euch doch nicht scheiden?“ oder „Ist jemand von euch krank?“ Darauf konnten wir dann erst mal herzlich lachen und verneinen und die Stimmung war gleich ein bisschen gelöster. Dann ging es eigentlich immer wie folgt weiter: „Ihr werdet uns jetzt wahrscheinlich für total bekloppt halten, aber wir haben vor etwas über ein Jahr einen aufwühlenden Radiobericht gehört. Darin wurde eine Familie vorgestellt, die ihre Kinder nicht zur Schule schickt. Das Thema hat uns seitdem nicht mehr losgelassen und wir haben uns inzwischen sehr intensiv mit dieser Möglichkeit auseinander gesetzt. Es ist natürlich noch nichts in Stein gemeißelt, aber wir spielen tatsächlich mit dem Gedanken, ob auch wir dies unseren Kindern ermöglichen wollen.“ Und ganz ehrlich. Dieser Moment, wenn es dann raus war, war jedes Mal etwas ganz Besonderes. Es hatte fast etwas Feierliches und definitiv etwas Befreiendes.

Die Reaktionen, die dann kamen, waren tatsächlich jedes Mal absolut identisch. Unsere Freunde und Verwandten waren erst mal total baff, weil sie damit natürlich nicht gerechnet hatten. Dann wurden Fragen gestellt. Tonnenweise Fragen. „Es gibt aber doch die Schulpflicht, wie wollt ihr das denn anstellen?“ „Wie lernen die Kinder denn dann? Wollt ihr sie selbst unterrichten?“ „Wie wollen die Kinder denn später mal einen Beruf ergreifen? Sie haben dann ja keinen Schulabschluss?“ und so weiter und so fort. Es bahnten sich darauf immer sehr interessante Gespräche an, in denen wir drei sehr essentielle Dinge klarmachen konnten, und ich glaube, dass diese Signale für jeden, der solche Gespräche führt, wichtig sind:

Erstens: Wir haben uns schlau gemacht.

Unsere Lieben konnten merken, dass wir uns wirklich lange und gründlich mit der Materie auseinandergesetzt haben. Dass das keine fixe Idee ist, die wir mal eben aus dem Ärmel geschüttelt haben, sondern etwas, das lange reifen konnte. Sehr wichtig war auch, dass wir auf alle kritischen Fragen eine gute, sachlich fundierte Antwort geben konnten.

Zweitens: Wir sind uns einig.

Gerade dass auch mein Mann dafür Stellung bezieht, der eigentlich sonst immer als der vernünftige oder „angepasste“ von uns beiden gilt, hat alle beeindruckt. Mehr als einmal kam gerade von unseren Freunden im Gespräch ein anerkennendes: „Christian, wir erkennen dich ja gar nicht wieder.“ Häufig erklärten wir dann auch, dass uns die Auseinandersetzung mit dem Thema auch einander wieder näher gebracht hat und dass wir lange schon nicht mehr so intensiv geredet haben. Das war für alle auch spürbar, und diese Einigkeit wird von außen sehr positiv wahrgenommen.

Drittens: Wir sind nicht dogmatisch.

Bei aller Überzeugungsarbeit für unser Anliegen, die wir geleistet haben, waren wir sehr darauf bedacht, daraus kein Dogma zu machen. Wir haben etwa gesagt:

Wir denken, dass die Schule sicherlich für viele Kinder ein guter Ort sein kann, aber eben nicht für alle.“ Oder: „Es wäre einfach schön, die Wahl haben zu dürfen.“ „Wir können total verstehen, dass dieses Thema für euch erst Mal total abwegig klingt.“ „Wir freuen uns sehr darüber, das ganze mit euch diskutieren und reflektieren zu können.“ Und das war natürlich auch unser Ernst.

Zum Ende des Gesprächs hin, waren dann alle Beteiligten immer platt, aber auch irgendwie gelöst. Alle meinten dann erst mal sinngemäß: „Puh, dass muss ich jetzt verdauen.“ oder „Da muss ich mal drüber schlafen.“ Die Verabschiedungen waren aber allesamt herzlich und froh.

Wie ging es dann hierauf weiter? Fast alle haben sich dann einige Tage später nochmal bei uns gemeldet. Sie hätten sich noch mal Gedanken gemacht und wollten uns noch mal mitgeben, dass wir uns das sehr gut überlegen sollen. Was wir da vorhaben, sei schon eine harte Nummer und wir könnten vielleicht noch gar nicht absehen, was wir unseren Kindern damit einmal antun. Hierauf haben wir uns jedes mal freundlich bedankt, weil alle diese Hinweise ja auch wirklich korrekt sind, und haben erneut darauf hingewiesen, dass ja noch nichts in Stein gemeißelt sei und dass wir uns weiter gründlich schlau machen und nichts übereilen werden.

Und heute? Diese Gespräche liegen schon lange zurück. Der ganze Komplex ist nur noch ganz selten Gesprächsthema. Wenn es mal Erwähnung findet, dann eher lapidar, nebenbei. Auch wenn viele unserer Lieben immer noch nicht Hurra schreien, können es inzwischen alle gut akzeptieren, es ist einfach Normalität geworden, und wir wissen, dass wir jederzeit mit freundschaftlicher Rückendeckung rechnen können.

Unsere Geschichte illustriert natürlich die Variante, wo die Kinder noch nicht unmittelbar betroffen sind und die Familie noch viel Zeit hat. Diese Zeit ist genau der Trumpf, den ihr ausspielen solltet, damit alle Beteiligten sich langsam an das Thema gewöhnen können. Aber keine Sorge: Ist euer Kind schon aktuell betroffen und ihr seid in Zugzwang – vielleicht gibt es auch einen hohen Leidensdruck in der Schule – dann nutzt eben genau das als euren Trumpf, dann seid ebenso ehrlich und offen, und ihr werdet auf diesem Weg genauso viel Verständnis erhalten wie wir damals in unserem Umfeld:
Wir alle wissen, dass man aus aktuellem Anlass heraus oft viel schlagkräftiger ist und viel mehr Energie in etwas legen kann, als wenn man nur so hypothetisch vor sich hindümpelt. Genau diese Energie wird euch auch dabei helfen, euer Umfeld abzuholen. Zeigt euch ruhig verletzlich, offenbart eure Sorgen und Nöte, hört euch Einwände und Ratschläge an, wer weiß, vielleicht gibt es tatsächlich Dinge, die ihr noch besser durchdenken könnt. Eine Sache nur müsst ihr klipp und klar machen: Die Würde eures Sohnes/Eurer Tochter ist nicht verhandelbar. Macht deutlich, dass ihr keine „Hilfe“ akzeptiert, die von euch verlangt: „Mach dich stark gegen das Kind. Alle Kinder wollen irgendwann mal nicht zur Schule. Das ist doch völlig normal und legt sich schon wieder. Dir und mir hat es ja auch nicht geschadet.“
Wenn ihr auf respektvolle, aber selbstbewusste Art und Weise für euer Anliegen eintretet, werdet ihr die Unterstützung erfahren, die ihr braucht. Da bin ich sicher. Und bedenkt immer, wie schwer es sein kann, alte Glaubenssätze zu verwerfen. Ihr habt vielleicht selbst einen langen Weg zum Freilernen hinter euch. Das solltet ihr auch eurem Gegenüber zubilligen und dafür ebenso Verständnis haben, wie ihr es im Umkehrschluss für euch erwartet.
Vielleicht denkt Ihr jetzt auch: Na, die haben’s gut, die haben ja offenbar nette Verwandte. Aber selbst wenn es bei euch Leute im Umfeld gibt, bei denen ihr glaubt, sie werden euch hassen und heftige Vorwürfe machen – führt euch vor Augen, selbst wenn es so ist, diese Leute werden, wenn sie zum nahen Umfeld gehören, sowieso mitkriegen, was ihr tut, und ihr könnt durch die frühzeitige Offenheit nur gewinnen. Ich wünsche euch viel Kraft, gegenseitig Empathie und Mut!