Schritt 3: Plant euren Weg

Nachdem ihr nun viel darüber gelesen, gesehen, gehört habt, wie ein Freilerner-Leben aussehen kann und wie es andere Familien gestalten, werdet ihr sicher schon eine Idee davon haben, was zu eurer spezifischen Situation passt. Im folgenden möchte ich die verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt, systematisch vorstellen. Dies sind:

  • Der Weg ins Ausland

  • Reisen: Roadschooling bzw. Worldschooling

  • Ziviler Ungehorsam

  • Mit viel Glück unter dem Radar durchtauchen

  • Schule-unterwegs-Programm

  • Freie Schulen bzw. Alternativ-Schulen

  • Pathologisieren

  • Problemfall: Allein erziehend

  • Eine Mischung aus allem

Der Weg ins Ausland:
Sollte dies euer Weg sein, sucht ihr euch ein Land, dass euch gefällt, das zu euch passt, dessen Landessprache ihr möglichst sprecht oder bald zu lernen beabsichtigt und in dem vor allem euer Traum von freier, selbstbestimmter Bildung zu verwirklichen ist. Ihr sucht euch dort einen Job, ein neues Zuhause und baut mit euren neuen Nachbarn und Landsleuten eine nette, funktionierende Community auf. Das klingt in der Theorie für viele, die örtlich nicht gebunden sind, verlockend. Ein einfacher Weg ist es trotz allem nicht.
Zunächst einmal solltest du bedenken, dass völlige Bildungsfreiheit nur in den allerwenigsten Ländern besteht. Zwar gibt es in Europa in keinem Land außer Deutschland und Schweden einen harten Schulanwesenheitszwang, aber lehrplangestützte Bildungspflichten, die häufig auch mit verbindlichen Prüfungsterminen verbunden sind, existieren fast überall. So muss der junge Mensch zum Beispiel in Österreich jedes Jahr eine Prüfung ablegen, und schon bei einmaligem Nichtbestehen wird die Erlaubnis zum Fernbleiben vom Schulunterricht nicht mehr gewährt. Du wirst dich in der Praxis deshalb immer wieder dazu gedrängt sehen, als Lehrer deines Kindes zu fungieren bzw. dich als betroffener, junger Mensch mit Lehrstoff zu beschäftigen, der dich aktuell nicht interessiert. Wer sich als Freilernerfamilie für Österreich entscheidet, sollte sehr gut abwägen, was dies für den Alltag bedeutet.
Ein anderes Beispiel: Die Deutschsprachige Gemeinschaft (DG) in Ostbelgien war lange ein beliebtes Auswanderungsziel, vor allem für Grenzgänger aus dem Westen Deutschlands. Gerade christliche Homeschooling-Anhänger haben sich vermehrt um die Stadt Eupen herum angesiedelt. Aus dieser kleinen, aber merklichen Zuwanderungswelle resultierte jedoch, dass die Schul-Inspektoren der DG dieser Entwicklung immer skeptischer gegenüber stehen, und auf der Grundlage neuer Regelungen wird auch hier inzwischen sehr scharf geprüft. Da Auswandern in der Regel ein langfristiges Projekt ist, sollte man grundsätzlich also wissen: Selbst wo weitgehende Bildungsfreiheit herrscht, kann sich die Situation ändern. Positive Beispiele wie Frankreich, wo kürzlich eine Gesetzesverschärfung im Parlament abgelehnt wurde, zeigen letztlich auch, dass man vor einer Verschärfung nirgends sicher sein kann. Dennoch gibt auch sehr ideale Auswanderungsländer, in denen man freier Bildung sehr aufgeschlossen gegenüber steht und wo die politische Kultur des Landes einer Verschärfung der Gesetzeslage entgegensteht. In Europa sind dies vor allem Großbritannien und Irland, wo die Möglichkeit alternativer Bildungsformen jeweils tief in den Verfassungen verankert ist und man als Freilerner bzw. Unschooler, wie es dort heißt, eine sehr gute, bestehende Infrastruktur und eine starke Community vorfindet. Mit dem Brexit wird es vermutlich schwieriger werden, nach Großbritannien zu emigrieren. Italien, Dänemark, Norwegen und Finnland sind (meines Wissens nach) in rechtlicher Hinsicht ebenfalls gut geeignet. Hier hat man eher das Problem, dass die Freilerner-Dichte sehr gering ist und man deshalb, was das soziale Umfeld angeht, aus anderen Quellen schöpfen muss. Last but not Least gibt es einige Schweizer Kantone, wo es momentan recht liberale Regelungen gibt und auch Portugal liegt aktuell bei Freilernern im Trend.

In Übersee gibt es ebenfalls einige gut geeignete Auswanderungsländer. Als erstes sei hier Kanada genannt, wo man in manchen Provinzen sogar eine finanzielle Förderung für alternative Bildungswege abseits des staatlichen Schulsystems erhält. In den USA gibt es in allen Bundesstaaten die Möglichkeit für Bildung außerhalb der Schule. Wie frei oder wie strikt dies gehandhabt wird, variiert dabei von Staat zu Staat. Die Zahl der Jugendlichen außerhalb des Schulsystems beträgt in den Vereinigten Staaten inzwischen schon über 2,5 Millionen, Tendenz steigend. Unschooler machen davon nach Schätzungen etwa 1 Millionen junger Menschen aus.
Andere Länder, die dem Unschooling gegenüber als aufgeschlossen gelten, sind unter anderem Australien, Neuseeland, Indien, Südafrika, Kolumbien, Indonesien und Israel. Hier findest Du eine Übersicht:
https://en.wikipedia.or/wiki/Homeschooling_international_status_and_statistics.

Neben der rechtlichen Situation, den Nichtschulbesuch betreffend, müssen beim Weg der Auswanderung natürlich noch andere Dinge beachtet werden.
Wie sehen die allgemeinen Einwanderungsbedingungen in diesem Land aus?
Wie verdient ihr euren Lebensunterhalt?
Wie ist es für euch und insbesondere für eure Kinder, euer familiäres und sonstiges Umfeld zurück zu lassen?
Passt das Land kulturell zu euch bzw. ihr zu ihm?
Wer all diese Dinge positiv für sich beantworten kann, für den ist die Auswanderung ein gangbarer und naheliegender Weg. Wer bei einer oder mehreren dieser Fragen „nein“ sagt oder grundsätzliches Unbehagen verspürt, für den bleiben andere Optionen.

Reisen: Roadschooling bzw. Worldschooling
Beim sogenannten Road- oder Worldschooling meldet Ihr euch aus Deutschland ab und reist mehr oder weniger permanent von einem Ort zum nächsten. Häufig geschieht dies im Wohnmobil, es gibt aber auch reisende Familien, die per Flugzeug unterwegs sind und alle paar Wochen von Ferien-Ressort zu Ferien-Ressort reisen. Dieser Weg zur freien, selbstbestimmten Bildung ist bei Freilerner-Familien gerade ein Trend, da man seinen Kindern dadurch viele, tolle Lernorte verfügbar macht, sie mit verschiedensten Kulturen in Berührung bringt und viele Länder ein sehr viel günstigeres Leben ermöglichen, als das hier in Deutschland der Fall ist.
Voraussetzung ist meist, dass die reisende Familie sich zuvor ein ortsunabhängiges (meist digitales) Business aufgebaut hat, um von unterwegs ihr Geld zu verdienen. Man spricht hier auch von digitalem Nomadentum.
Eine andere Möglichkeit ist es – z.B. als Erntehelfer – von Job zu Job zu reisen und dabei mit Touristenvisum jeweils im Rahmen der maximal möglichen Aufenthaltsdauer in einem Land zu arbeiten. Manche Familien leben auch von einer Erbschaft oder zum Beispiel vom Verkauf oder der Vermietung des eigenen Hauses.
Prominente Beispiele für Worldschooler sind z.B. die Sundance-Family: www.diesundancefamily.com, Familie Horlacher: www.fitforfamily.net oder Familie Reichert: www.5reicherts.com.
Neben den materiellen Voraussetzungen muss natürlich jeder bedenken, ob ein nomadisches Leben mit den häufigen Ortswechseln für die eigene Familie realisierbar und verkraftbar ist. Man kann diese Variante aber auch auf Zeit ausprobieren, um sich Klarheit darüber verschaffen, wie bzw. wo es z.B. nach einem Jahr Weltreise weitergehen kann.

Ziviler Ungehorsam:
Immer mehr Familien trauen sich inzwischen diesen Weg in Deutschland einzuschlagen. Und zwar mit größeren Erfolgsaussichten, als Du vielleicht denkst.
Meist resultiert dies daraus, dass ein junger Mensch seinen Eltern gegenüber zum Ausdruck bringt, dass er nicht länger die Schule besuchen möchte. Oft hat die Familie dann schon einen langen Leidensweg hinter sich, und es kostet die Eltern inzwischen mehr Kraft und Nerven ihr Kind weiter zum Schulbesuch zu bewegen, als sich den behördlichen Auseinandersetzungen zu stellen. Zudem sorgt ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel inzwischen dafür, dass viele ganz junge Kinder von ihren Eltern derart respektiert und in ihrer Autonomie geachtet werden, dass sich immer mehr selbstbewusste, charakterstarke Kinder schon sehr früh und sehr deutlich gegen die Beschulung zur Wehr setzen und darin von ihren Eltern ernstgenommen werden.

Der Schule wird dann mitgeteilt, dass das Kind nicht mehr zum Unterricht erscheinen wird, häufig kombiniert mit einer offiziellen Abmeldung, woraufhin die Schule in aller Regel den Verstoß gegen die Schulpflicht beim zuständigen Schulamt meldet. Bußgeldforderungen folgen, darauf dann Einsprüche und Anwaltsschreiben. Termine mit dem Jugendamt schließen sich an. Oft können sich hier schon hoffnungsvolle Tendenzen abzeichnen. Die Mitarbeiter vom Jugendamt sind in aller Regel völlig überrascht davon, welch gute familiäre Bedingungen sie beim jungen Schulverweigerer vorfinden. Wenn das Jugendamt sonst eingeschaltet wird, haben es seine Mitarbeiter zumeist mit ganz anderen Kalibern, mit Verwahrlosung und/oder offener Gewalt zu tun. Oft wird man attestiert bekommen, dass hier objektiv keine Kindeswohlgefährdung vorliegt.
Wenn man Glück hat und freundlich, aber selbstbewusst und seriös auftritt und mit verständnisvollen Menschen zu tun hat, kann es schon passieren, dass gar keine weiteren Schritte mehr erfolgen und sowohl Jugendamt als auch Schulamt die Sache auf sich beruhen lassen. Viele der zuständigen Mitarbeiter haben bisher noch nie etwas davon gehört, dass es überhaupt möglich ist, sich abseits der Schule zu bilden, stehen dem ganzen aber aufgeschlossen gegenüber, sobald sie sich erst ein wenig mit der Möglichkeit beschäftigt haben und, wie gesagt, die Eltern mit einem entsprechenden Auftreten Zuverlässigkeit und Seriosität signalisieren. Ich kenne persönlich Fälle, in denen es tatsächlich nur bis hierhin ging und rasch eine stille Duldung erreicht werden konnte.

Es geht aber auch anders: Dann geben Schule und Schulamt nicht klein bei und erwirken beim Jugendamt, dass gegen die Eltern des schulverweigernden Kindes Klage vor dem Familiengericht erhoben wird. Hier entsteht nun immer häufiger eine sehr interessante Patt-Situation. Denn der Vorwurf der Kindeswohlgefährdung durch den Nichtbesuch der Schule steht, wie die Gerichte inzwischen eigentlich einhellig befinden, in keinem Verhältnis zu dem Eingriff, der durch eine Herausnahme aus der intakten Familie entstehen würde, gerade wenn reichhaltige Sozialkontakte nach außen belegt sind. Es werden zwar in Ausnahmefällen immer wieder auch Teile des Sorgerechts wie das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Bestimmung der Eltern über die schulischen Angelegenheiten aberkannt, aber letzteres ist für Freilerner naheliegenderweise nicht wirklich ein Problem, und höhere Instanzen haben dies auch teilweise wieder kassiert. Die praktische Bedeutung dieser Sorgerechtseingriffe bleibt gering, und viele Gerichtsverfahren werden schließlich eingestellt. Manche Familienrichter zeigen sich gar verwundert, warum sie hier überhaupt angerufen wurden. Es gibt zudem inzwischen auch ernstzunehmende Stimmen aus der Rechtswissenschaft, die darauf hinweisen, dass die deutsche Schulpflicht verfassungsrechtlich auf sehr wackeligem Fundament steht.

Dennoch soll die Situation hier nicht in zu rosigen Farben geschildert werden. Das alles ist sicherlich eine Typfrage und für derartige Auseinandersetzungen ist gewiss nicht jeder gemacht. Die Konfrontation mit den Behörden bis hin zu Gerichtsverfahren ist keine Kleinigkeit, sie erfordert Zeit, Kraft, Geduld und kann das Familienleben deshalb stark belasten. Hinzu kommen ggf. finanzielle Belastungen. Zugleich ist wichtig festzuhalten, dass es keineswegs hoffnungslos ist, den Weg des zivilen Ungehorsams hier in Deutschland zu beschreiten. Ich möchte sogar explizit dazu ermutigen, wenn euer Kind den Schulbesuch verweigert, denn je mehr Menschen sich trauen, diesen Weg zu gehen, desto mehr können wir alle gemeinsam erreichen. Letztlich sind es vor allem die, die sich aktiv und offen zur Wehr setzen, die mithelfen, die in Deutschland durchaus auch rechtlich fragwürdige Auslegung der Schulpflicht endlich zu verändern. Zumal auch zu bedenken ist, dass alle Weg hin zu schulfreiem Leben und nicht zu letzt auch Leben mit Schule, obwohl das eigene Kind dort nicht hin will, mit vielen Problemen und Anstrengungen verbunden sind.

Ermutigend ist auch, dass du diesen Weg nicht alleine gehen musst. Es gibt inzwischen eine Reihe von Organisationen und einzelne Personen, die Familien, welche mit den Behörden im Clinch liegen, unterstützen. Zu aller erst sei hier die Freilerner-Solidargemeinschaft genannt. Der Verein sammelt Spenden, um für Anwaltskosten aufzukommen, psychologische Gutachten zu finanzieren und veranstaltet rechtswissenschaftliche Kolloquien und regelmäßige Prozess-Gesprächstrainings für betroffene Familien. Karen und Matthias Kern, die den Verein gegründet haben, sind unermüdlich im Einsatz, um betroffene Familien zu beraten und mit ihnen die Strategie zu planen. Der Verein ist dringend auf Spenden (kleine und größere Summen) angewiesen. Wenn du also helfen möchtest, findest du hier die Kontodaten. Trag dich am besten auch in deren Newsletter ein (rechts auf der Website). Dann erfährst du sofort, wenn es neue Spendenaktionen oder bahnbrechende neue Gerichtsbeschlüsse gibt.

Die, der Freilerner-Solidargemeinschaft nahe stehende, Initiative für selbstbestimmte Bildung (INFSB) von Sylvia Müller (ehemals Initiative Frei-sich-Bilden) setzt sich vorranigig für politische und behördliche Aufklärungsarbeit ein und hält hierzu hervorragend recherchiertes Informationsmaterial vor, das auf der Website herunter geladen werden kann. Unter dem Label der INFSB haben sich auch schon ein paar Regionalgruppen gegründet oder sind gerade dabei, die für ihr jeweiliges Bundesland politische Arbeit und Netzwerkarbeit leisten wollen. Auf diese Art konnte im September 2018 zum Beispiel schon diese wichtige Veranstaltung hier gemeinsam mit der Hamburger Links-Fraktion realisiert werden:
https://www.linksfraktion-hamburg.de/veranstaltungsbericht-fachtag-schulpflicht-schulzwang-recht-auf-bildung/

Als nächstes sei der Bundesverband Natürlich Lernen! e.V. (kurz BVNL) genannt, der unter anderem Solidaraktionen organisiert, um verteilt auf viele Schultern für Bußgelder aufzukommen. Hierbei sind alle aufgefordert unmittelbar an die zuständigen Ämter kleine Beträge zu überweisen, um zum einen die betroffenen Familien finanziell zu entlasten und zum anderen den Behörden Solidarität zu demonstrieren sowie ihnen nebenher auch einigen Verwaltungsaufwand zu bereiten.

Weitere Hilfe erhält man durch Bertrand Stern und Franziska Klinkigt. Franziska ist systemtherapeutisch ausgebildete Diplom-Psychologin und berät betroffene Familien mit sehr viel Feingefühl. Sie erstellt Gutachten für Gerichtsverhandlungen und hat dadurch bereits mehrfach das Blatt im Prozess wenden können. Bertrand, der sich seit rund 50 Jahren als Philosoph mit Schulkritik auseinandersetzt, gelingt es immer wieder, die Gerichte und Behörden auf die eklatante Grundgesetzverletzung des jungen Menschen, den die Schulpflicht in seiner Würde verletzt, wortgewandt aufmerksam zu machen. Gemeinsam veranstalten die beiden regelmäßig Infovorträge und „Werkstattgespräche“, bei denen Betroffene sich besonders zu Fragen der Haltung gegenüber Behörden fortbilden können. Kontakt aufnehmen könnt ihr mit den beiden unter:
www.bertrandstern.de und www.franziskaklinkigt.de

Schließlich sollen hier noch zwei Rechtsanwälte Erwähnung finden, die im Bereich der freien Bildung viel Expertise aufgebaut haben und ihre Mandanten damit effektiv unterstützen können:

Jost von Wistinghausen
Rosenweg 21
53913
Swisttal
Telefon: 02226-9091870
Fax: 02226-9091869

Dr. jur. Andreas Vogt
Niederhoner Straße 20
37269 Eschwege
Telefon: 05651-3350250
Fax: 05651-3350251

Wer sich für den gesamten Themenkomplex „Ziviler Ungehorsam“ und die rechtliche Situation in Deutschland näher interessiert, dem möchte ich die beiden folgenden Bücher dringend empfehlen, herausgegeben von der Freilerner Solidargemeinschaft: Selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung versus Schulpflicht und Selbstbestimmte Bildungswege als Kindeswohlgefährdung? Beide sind als Tagungsbände der ausgezeichneten wissenschaftlichen Kolloquien der FSG bei tologo erschienen.
Auch sehr informativ ist folgendes, fast dreistündiges Kongress-Interview mit Bertrand Stern beim Kinder-Gesundheits-Kongress 2016, in dem Bertrand sehr explizit(!) auf praktische Strategien und Möglichkeiten im Umgang mit Behörden und Gerichten eingeht. Für 4,90 Euro vollständig zu erwerben, davon sind die ersten 1,5 Stunden kostenfrei verfügbar:
www.kinder-gesundheitskongress.de/experten-themen/bertrand-stern-c99

Darüber hinaus ist Bertrand Sterns kostenfreier Youtube-Kanal eine gute Informationsquelle mit umfangreichen Video-Vorträgen, die auch den obigen Themenkomplex berühren.

Mit viel Glück unter dem Radar durchtauchen:
Der hier beschriebene Weg ist einer, der wahrscheinlich vielen deutschen Freilerner-Familien am einfachsten scheint. Er birgt aber eine Reihe von Tücken und Gefahren, weshalb auch dieser Weg nicht ohne Bedenken zu empfehlen ist; er muss, wie alle hier genannten Wege, zur einzelnen Familie passen.

Es gibt verschiedene Varianten dieses Weges. Manche Familien melden das junge, freilernende Kind erst gar nicht zur Schule an. Mit etwas Glück wird die Nichtanmeldung von der zuständigen Grundschule nicht bemerkt oder weiterverfolgt und man hat erst einmal seinen Frieden. In aller Regel hält diese Lösung nicht lange, weil das Kind in der jeweiligen kommunalen Schülerdatei des Schulamts ja auftaucht. Auf eine zweite Variante hoffen ebenfalls viele Eltern: Es wird von Einzelfällen berichtet, wo verständnisvolle Schuldirektoren – oft von freien Schulen – das Fernbleiben des Kindes tolerieren und nicht melden. Man muss jedoch bedenken, dass die Schulleitung damit ihrerseits unrechtmäßig handelt; gerade freie Schulen können dadurch in echte Schwierigkeiten geraten. Deutlich mehr Familien nutzen deshalb eine Variante, die bei ersten Kontakten in die Freilerner-Szene häufig empfohlen wird: Ein Elternteil meldet sich mitsamt den schulpflichtigen Kindern aus Deutschland ab, während der andere Elternteil weiterhin gemeldet bleibt. Oder es melden sich gleich beide Eltern mit ab, jedoch wohnen alle weiterhin am bisherigen Ort. So gelangt das Kind entweder gar nicht in die Schülerdatei oder, wenn es schon schulpflichtig war, wieder aus ihr heraus. Es fliegt sozusagen „unter dem Radar“ der Behörden durch.

Wie alle Wege, gibt es auch hierbei Schwierigkeiten und Nachteile. Vor allem ist das die Heimlichkeit. Man ist sozusagen illegal im eigenen Land. Ganz unbemerkt wird die Sache meist nicht lange bleiben, da sehr schnell Nachbarn, Freunde oder Verwandte argwöhnisch werden. Um dem zu entgehen beginnen viele Eltern Lügengeschichten zu erfinden oder sogar Kontakte nach außen zu vermeiden. Das Kind wird oft bis zum Nachmittag zu Hause versteckt gehalten und muss selbst Lügengeschichten erzählen, um nicht „aufzufliegen“. Viele gehen auch offen mit der Situation um, erzählen vertrauenswürdigen Menschen die ganze oder drei Viertel der Wahrheit und haben für andere unterschiedliche Versionen einer Cover-Story parat. Manche können damit gut umgehen, für andere ist das ganze ist begleitet von permanenter Angst. Tatsächlich wird von Fällen berichtet, wo nicht nur Nachbarn, sondern sogar enge Verwandte eine Familie denunziert haben, und dann steht trotz aller Bemühungen irgendwann das Jugendamt vor der Tür.

Es gibt Familien, die auf diesem Weg jahrelang gut zurechtkommen, das sei hier nicht verschwiegen! Man muss sich allerdings vor Augen führen, dass eine Familie, die „unter dem Radar“ agiert, im Gegensatz zu der Situation, die ich unter „ziviler Ungehorsam“ geschildert habe, bei den Behörden schlechter aussehen kann. Um so mehr kommt es hier auf seriöses, kluges Auftreten an, denn man hat schließlich doppelt gegen geltendes Recht verstoßen. Eltern, die diesen Weg wählen, sollten wissen, dass eingeschränkte soziale Kontakte, die durch ein jahrelanges Versteckspiel möglicherweise gegeben sind, für die Behörden immer ein Alarmsignal darstellen. Es kommt also in diesen Fällen um so mehr darauf an, dass die Familie keinesfalls isoliert und unseriös wirkt, sonst wird es viel schwieriger, den Verdacht der Kindeswohlgefährdung aus der Welt zu schaffen.

Letztlich kommt es auf den Einzelfall an, welcher Weg mehr Angst erzeugt und mehr Kraft erfordert: die offene Auseinandersetzung mit den Behörden oder der hier skizzierte Weg. Ein eher städtisches, anonymes Umfeld kann helfen, bietet aber natürlich auch keine Garantie.
Dieser Kompass soll die verschiedenen Möglichkeiten aufzeigen. An dieser Stelle möchte ich aber meine persönliche Meinung nicht verbergen, die lautet: Für jeden, der sich als junger Mensch hier in Deutschland schulfrei bilden möchte, ist der Weg des zivilen Ungehorsams der geradere und darum vorzuziehen, er verspricht durchaus Erfolg, wenn man Kraft, ein gutes Netzwerk und am besten auch ein bisschen Geldreserven hat. Andererseits: Das heimliche, illegale Leben bietet natürlich immer die Möglichkeit auf die offene Auseinandersetzung umschwenken, oder auch ins Ausland zu gehen, man kann diesen Weg also auch für eine Übergangszeit wählen.

Schule-unterwegs-Programm
Das Schule-unterwegs-Programm ist entwickelt worden, um Kindern beruflich Reisender innerhalb Deutschlands, z.B. Zirkus-, Schausteller- und Binnenschiffer-Familien, einen Schulersatz zu bieten. Die Kinder werden an einer Stammschule angemeldet und bekommen einen offiziellen Lernbegleiter zugewiesen. Es gibt Lehrpläne, es muss ein Lerntagebuch geführt werden und zum Schuljahresende gibt es Überprüfungen und auch Zeugnisse. Sollte eine Familie länger als drei Werktage an einem Ort verweilen, ist sie theoretisch verpflichtet ihre Kinder dort eine Schule besuchen zu lassen. In der Praxis wird dies meines Wissens nach jedoch nicht strikt durchgesetzt.

Wer in diesem Programm Aufnahme findet (was mit strengen Auflagen und einiger Willkür vom Schulträger verbunden ist), hat etwas mehr Spielräume im individuell gestalteten Lernen gegenüber dem normalen Schulbesuch. Mit freier, selbstbestimmter Bildung ist das aber natürlich in keiner Weise zu verwechseln und was den Familienalltag angeht, ist zu bedenken: Die Eltern stehen unter hohem Druck, dem Schüler die Beschäftigung mit fremdbestimmten Lernthemen aufzuzwingen.

Freie Schulen bzw. Alternativschulen
Vielen am Freilernen interessierten Familien erscheint es als guter Kompromiss, ihre Kinder auf eine der vielen alternativen Schulen zu schicken, die es in Deutschland gibt. Damit sind weniger die regelschulähnlichen Schulen in freier Trägerschaft (zum Beispiel Kirche oder paritätischer Wohlfahrtsverband) gemeint als vielmehr Schulen mit einem alternativen pädagogischen Konzept wie zum Beispiel Waldorf- oder Montessori-Schule. Eltern erhoffen sich dort weniger Druck und freieres Lernen. Hierzu ist zu sagen, dass es dabei sehr auf den Einzelfall ankommt. Es gibt sehr lockere, aber auch sehr verknöcherte Montessorischulen. Und die Erfahrung zeigt, dass nach längerer Beschäftigung mit dem Freilernen den Eltern wie den Kindern bald schon selbst die kleinsten Vorgaben beim Lernen absurd, ja irgendwann unerträglich scheinen. Dann stellt sich die Frage: Was tun? aufs Neue.

Menschen, die dem Freilernen nahe stehen, wählen deshalb, wenn irgend möglich, eine der sogenannten freien Alternativschulen, die sich im Bundesverband der freien Alternativschulen (BFAS) zusammen geschlossen haben. Diesen Schulen ist gemeinsam, dass eine weitgehende Selbstbestimmung der Schüler beim Lernen gewährleistet wird. Die Schüler sind in die Organisationsprozesse der Schule eingebunden bzw. können oder sollen aktiv mitentscheiden. Hierbei gibt es zwischen den einzelnen Schulen große Unterschiede, am weitesten gehen die sogenannten „demokratischen Schulen“.

Problematisch ist zum einen, dass diese Schulen bislang noch sehr selten sind (heutiger Stand: etwa 100 Schulen in ganz Deutschland, demokratische Schulen gibt es nur eine Handvoll). Zum anderen sind diese Schulen, gerade wenn die Freiheit im Schulalltag sehr weitgehend ist, auch nach ihrer Gründung nicht vor Übergriffen durch das Schulamt gefeit, wenn die ein oder andere offizielle Vorgabe nicht strikt genug befolgt wird. So darf man nicht vergessen, dass trotz aller Freiheit auch diese Schulen unter anderem verpflichtet sind, sich an den jeweiligen Lehrplänen des betreffenden Bundeslandes zu orientieren. Ein trauriges, aktuelles Beispiel hierfür stellt die Schließung der Sudbury Schule Ammersee in Bayern da, die erst ein halbes Jahr zuvor mit behördlicher Genehmigung eröffnet worden war. Schließlich sind auch diese Schulen nicht vor Konflikten gefeit: Wer „Freiheit“ sagt, meint oft nicht dasselbe, und es wird immer Eltern geben, die z.B. merken, dass sie doch gerne Noten wollen, so dass kräftezehrende Diskussionen über das Schulkonzept oder Unzufriedenheit im Schulalltag entsteht. Zugleich ist zu sagen, dass z.B. die (wenigen) genehmigten demokratischen Schulen in Deutschland meiner Kenntnis nach im Alltag gut funktionieren.
Zur Orientierung findest du hier einige Links zu Demokratischen Schulen in Deutschland:
www.kapriole-freiburg.de
www.ting-schule.de
www.neue-schule-hamburg.org
Zudem empfehle ich dir als Film-Tipp: Schools of Trust, erschienen bei Tologo

Ich höre im Moment sehr oft davon, dass sich Elterninitiativen bilden, die in ihrer Region und nach eigenen Vorstellungen selbst eine freie Alternativschule gründen wollen. Hierzu sei erwähnt, dass der BFAS davon ausgeht, dass solch eine Schulgründung im besten Fall mindesten drei Jahre dauert. Sie stellt zudem ein kostspieliges Unterfangen für alle Gründungsfamilien dar, erfordert hohen Kraft- und Zeitaufwand, und vor allem: Allzu freie Konzepte werden meist von der zuständigen Genehmigungsbehörde abgeschmettert. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, dem sei hier empfohlen, die Gründungsmappe mit allen wichtigen Informationen beim BFAS für 22,00 Euro zu beziehen:
www.freie-alternativschulen.de/index.php/startseite/publikationen/bfas-publikationen/71-bfas-infomappe-schulgruendung.
Wichtig ist es in jedem Fall, sich frühzeitig mit anderen Initiativen zu vernetzen, um aus deren Erfahrungen zu lernen.

Pathologisieren
Einigen Familien erscheint es als Ausweg, Ihre Töchter und Söhne dauerhaft krankschreiben zu lassen. Zum Beispiel auf der Grundlage der Tatsache, dass der bisherige Schulbesuch für das Kind so traumatisierend war, dass es psychisch nicht mehr in der Lage ist, zur Schule zu gehen. Natürlich muss man erst einmal einen Arzt finden, der dies unterstützt. Vor allem aber sollte man sich darüber im klaren sein, welchem Szenario man hier sein Kind aussetzt. Letztlich stellt die Krankschreibung eine Stigmatisierung dar, die im schlimmsten Fall dem jungen Menschen sein Leben lang Probleme bereiten kann. Zum Beispiel, wenn er oder sie später einmal eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen möchte, aber auch was mögliche Schäden an seinem Selbstwertgefühl betrifft. Die Durchsetzung ist zudem trotz ärztlichem Attest schwierig. Im Falle von Kindern mit objektiv starken geistigen Behinderungen, schwerwiegender Traumatisierung, langjährigem Mobbing etc. kann die Krankschreibung hingegen ein gangbarer Weg sein. Erfahrungsgemäß ist in so einem Fall der behördliche Gegendruck auch weniger stark ausgeprägt, es kommt auch hier jedoch stets auf den Einzelfall an, nicht nur beim Kind, sondern auch was die Ansprechpartner bei den Ämtern betrifft.

Problemfall: Allein erziehend
Sehr schwierig kann es werden, wenn die Eltern des schulverweigernden Kindes getrennt sind und sich das Sorgerecht teilen. Häufig ist es so, dass der Elternteil, bei dem das Kind vorrangig lebt, seine unmittelbaren Sorgen und Nöte hautnah miterlebt und daher schnell geneigt ist, das Nein zur Schule zu respektieren. Der andere Elternteil hingegen erlebt den Schulalltag und seine Belastungen nicht so unmittelbar und stellt sich oftmals strikt dagegen. Gerade wenn sich die Trennung der Eltern nicht freundschaftlich vollzogen hat, spielen häufig verletzter Stolz, Trotz und Rachegefühle mit, was eine einvernehmliche Lösung schwer bis unmöglich macht. Vergiss nicht, dass für fast alle Menschen das Thema „Leben ohne Schule“ auf den ersten Blick vollkommen abwegig ist! Oft ist beim Ex-Partner die Bereitschaft, sich damit inhaltlich auseinander zu setzen, indem man zum Beispiel Literatur dazu liest, gar nicht gegeben. Sorgt man nun als verständnisvolle Mutter oder Vater nicht für den ordentlichen Schulbesuch, droht durchaus die Gefahr, dass das Sorgerecht auf den anderen, opponierenden Elternteil übergeht. Auch ein Gang ins Ausland wird dann schwer bis unmöglich, da der Ex-Partner ebenfalls über das Aufenthaltsbestimmungsrecht des jungen Menschen verfügt.

Viele Alleinerziehende suchen daher eine Kompromisslösung, mit der dem Sohn oder der Tochter der Schulbesuch möglichst angenehm gestaltet wird. Noten haben dann nicht viel Relevanz in der Familie, Hausaufgaben werden häufig vom Erwachsenen übernommen und akuteste Unlust mit einer kurzzeitigen Krankmeldung gedeckelt. Eine gute Strategie ist es in jedem Fall auch als Mutter oder Vater einen netten Kontakt zur Schulleitung und zu den Lehrern aufzubauen, sich gegebenenfalls auch in Elternbeirat, Förderverein etc. zu organisieren und somit aktiv an einer möglichst angenehmen und verständnisvollen Lernumgebung mitzugestalten. Es bleibt leider die Tatsache, dass als alleinerziehender Elternteil deine Möglichkeiten, was das Freilernen angeht, extrem eingeschränkt sind. Das verhält sich natürlich anders, falls Du das alleinige Sorgerecht hast; dann stehen dir prinzipiell wieder alle anderen Wege offen. Du musst dennoch bedenken, dass du auch in diesem Fall Nachteile hast, du bist nämlich gegenüber den Behörden verwundbarer, weil du immer noch oft als irgendwie nicht „vollständige“ Familie wahrgenommen wirst, weil man dich nur zu gerne verdächtigt, dass du an deinem Kind klammerst, dass du es nicht umfänglich genug betreuen kannst etc. Um so wichtiger ist dann ein gutes, intensives Netzwerk inklusive Sozialkontakte des Kindes, und ein seriöses, selbstbewusstes und zugleich kooperatives Auftreten, wenn es zu Konflikten kommt.

Eine Mischung aus allem
Die meisten Freilerner-Familien, die ich persönlich kenne, praktizieren tatsächlich eine Mischform aus allen oben beschriebenen Methoden. Da gibt es einige, die einen zweiten Wohnsitz im Ausland haben und häufig hin und her pendeln, sich bei weitem aber häufiger in Deutschland aufhalten, als den Behörden gegenüber angegeben wurde. Einige gibt es, die aktiv den Weg des zivilen Ungehorsams begangen haben und dann, als es ihnen zu brenzlich wurde, doch die Kinder wieder kurzzeitig zur Schule geschickt haben, um Zeit zu gewinnen oder dann für eine Weile ins Ausland gegangen sind. Wieder andere haben damit gestartet, die ersten Schuljahre der Kinder im Ausland zu verbringen und als sie dann nach ein paar Jahren wieder zurück nach Deutschland mit schon größeren Kindern kamen, hat es niemanden mehr wirklich geschert. Viele reisende Familien verreisen tatsächlich nur für einen kleineren Teil des Jahres und sind den Rest des Jahres hier vor Ort. Hieran kann man gut erkennen, dass die Behörden sich vielfach schnell zufrieden geben, wenn es zumindest auf dem Papier eine legale Lösung gibt. In wiefern das dann buchstabengetreu eingehalten wird, kontrolliert kaum noch jemand.

Fazit: Welcher Weg auch immer euch gangbar erscheinen mag, prüft gut ab, ob er kurzfristig, aber auch mit den langfristigen Konsequenzen zu euch passt: zu eurem Naturell, zu eurem Umfeld, zu euren Beruf, euren Finanzen, eurer erweiterten Familie und, wenn ihr Eltern seid, natürlich zu euren Kindern. Gut ist es immer, einen Plan B zu haben. Versucht daher am besten so viele Szenarien wie möglich für euch konkret durchzuspielen und euch mindestens einen zweiten gangbaren Weg offen zu halten.

An dieser Stelle möchte ich noch einen Text von Sylvia Müller
(Initiative für selbstbestimmte Bildung, INFSB) empfehlen, der im Juni 2017 in der Freilerner-Zeitschrift veröffentlicht wurde und die verschiedenen Wege, Freilernen zu realisieren, auf sehr augenzwinkernde Weise anschaulich macht.
http://freilerner.de/unentschlossen-und-die-geheimnisvolle-zauberloesung/