Dieser offene Brief bezieht sich auf einen Artikel aus der Ausgabe 02/2020 der Zeitschrift “E&W”, welche als Mitglieder-Zeitschrift der Lehrergewerkschaft GEW herausgegen wird. Der betreffende Artikel “Braune Schnittmengen” findet sich hier auf Seite 20:
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Sehr geehrte Frau Wenzel,
sehr geehrter Herr Ruf,
sehr geehrter Herr Rödde,
sehr geehrter Herr Amendt,
mit großem Interesse habe ich den Artikel „Braune Schnittmengen“ in der „E&W“, Ausgabe 02/2020 gelesen.
Ich finde es gut, dass Sie in Ihrem Artikel auf randseitigen Strömungen der Homeeducation-Bewegung aufmerksam machen und sich aus Sicht der GEW überhaupt mit Teilgebieten des Themas beschäftigen.
Dafür möchte ich Ihnen danken!
Ich selbst habe gemeinsam mit drei befreundeten Freilerner-Aktivisten vor wenigen Wochen erst die Erklärung zur Selbstbestimmung in der Bildung veröffentlicht, in der wir uns neben einer Forderung der Legalisierung von Bildungswegen ohne Schulbesuch in Deutschland auch entschieden von Vereinnahmungen des Themas durch antiemanzipatorische Strömungen distanzieren.
https://erklaerung-selbstbestimmte-bildung.de
Wie aus Ihrem Artikel ersichtlich wird, ist Ihnen die Zeitschrift „die Freilerner“ bekannt, bei der ich selbst auch Mitglied der Redaktion bin. Vielleicht haben Sie bei Ihren Recherchen bemerkt, dass wir unsere Ausgabe 84, die letzten Sommer erschienen ist, dem Schwerpunktthema „Schutz vor Isolation und Indoktrination“ gewidmet haben. https://freilerner.de/produkt/heft-84-schutz-vor-isolation-indoktrination/ Wir setzen uns ingesamt regelmäßig kritisch mit den randseitigen, elternrechtlich argumentierenden, ideologisch motivierten Homeschooling-Umtrieben auseinander.
So gut ich es folglich finde, dass Sie diese problematischen Strömungen in Ihrem Artikel beleuchten, so kritisch sehe ich es, dass Sie die Motivation der Freilerner-Bewegung in Ihrem Artikel mit keinem Wort beleuchten. Der instrumentalisiert das Stichwort “Freilerner” nur, um auszusagen, dass Teile der Home Education-Bewegung selbst ja bestätigen würden, es gebe Probleme mit dem rechten Spektrum. Die einzigen Beschreibungen, die Sie für uns übrig haben sind „Schulpflicht als Relikt aus den vergangenen zwei Jahrhunderten“ und „Schule als gewalttätiges System“. Ich finde das journalistisch wirklich oberflächlich, verkürzt und tendenziös. Mit Verlaub: Ich bin über eine solch schlampige Recherche wirklich empört!
Es gibt paradoxerweise ein verbindendes Element zwischen Freilerner-Bewegung und GEW: Seit vielen Jahren taucht in jedem zweiten Zeitungsatikel über Freilerner (Quellen hier: https://schulfrei-community.de/zeitungsartikel/) Ilka Hoffman als ewige Antagonistin auf, die stets gebetsmühlenartig die selben Vorbehalte wiederholt: Schulpflicht als Pflicht des Staates, ein Bildungssystem zu finanzieren, Unterfinanzierung und Verkommen der Schulen bei Wegfall der Schulpflicht. Zu dieser dystopischen Vorstellung passt die Bebilderung Ihres Artikels mit einem trist eingerichteten, verwaisten Klassenzimmer. Die Annahme von Frau Hoffmann ist natürlich vollkommen irrig, sichert doch Art. 7 GG die staatliche Schulfinanzierung vollständig ab. Die von Frau Hoffmann oft wiederholte Beteuerung, die Schulpflicht sei ja auch ein Recht auf Bildung, stellt eine ungeheuerliche Begriffsverdrehung dar. Führen Sie sich bitte vor Augen, dass es in fast keinem anderen Land der Welt eine derartig restriktive Ausgestaltung von Schulgebäudeanwesenheitspflicht gibt! Die anderen westlichen Demokratien brechen trotzdem nicht zusammen, soweit ich weiß. Zählt nicht das Schulsystem in Finnland beispielsweise zu den besten und nachahmenswertesten der Welt? Finnland kennt keine Schulpflicht.
Wiederholt habe ich selbst – wie auch befreundete Aktivisten – versucht mit Frau Hoffmann über diese Punkte ins Gespräch zu kommen. Sie hat es leider bislang vermieden, darauf auch nur zu antworten, und spricht weiterhin lieber über uns statt mit uns.
Ich halte es für mehr als angebracht, dass die GEW, wenn Sie das Thema Homeeducation schon aktiv aufgreifen, auch die Freilerner-Bewegung und ihre Motive in angemessener Form vorstellt bzw. sich endlich damit auseinandersetzt. Wenn in einer der folgenden Ausgaben des Magazins „E&W“ Platz dafür wäre, würde mich das freuen.
Ich möchte noch auf einen krassen Fehler im Artikel hinweisen. Dort steht: „Dass die AfD ein Ende der Schulpflicht* fordert, überrascht nicht weiter.“ Dies ist in derartig pauschaler Form völlig falsch . Lediglich der AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt hatte so etwas 2016 im Wahlprogramm. Und zwar in der denkbar unfreiesten Form, wobei nämlich in keiner Weise auf das Selbstbestimmungsrecht eines jungen Menschen eingegangen wurde: „….Eltern ist grundsätzlich die Wahlfreiheit zwischen Schul- und Hausunterricht für ihre Kinder einzuräumen. Schulpflicht ist durch Unterrichtspflicht zu ersetzen. Voraussetzung für Hausunterricht ist, dass der Hausunterricht durch Privatlehrer gleiche Qualitätsstandards erfüllt wie Schulunterricht und dabei die gleichen Prüfungen abgelegt werden müssen.“
Andere Landsverbände und auch die Bundespartei sehen die Sache ganz anders. Die AfD als Ganzes steht für eine strenge Durchsetzung der Schulpflicht, wie Sie beispielsweise anschaulich in den Wahlprüfsteinen der Freilerner-Zeitschrift nachlesen können, die wir anlässlich der damals bevorstehenden Landtagswahlen in Bayern 2018 sowie in Brandenburg und Sachsen 2019 veröffentlicht haben. Die AfD hat uns hier sehr unmissverständlich erklärt, dass man eine harte, mit Sanktionen bewehrte Einhaltung der Schulpflicht für wichtig hält. Die Antworten aller Parteien finden Sie hier (Bayern): https://freilerner.de/wahlpruefsteine-zur-landtagswahl-in-bayern/, hier (Brandenburg): https://freilerner.de/wahlpruefsteine-zur-landtagswahl-in-brandenburg/ und hier (Sachsen): https://freilerner.de/wahlpruefsteine-zur-landtagswahl-in-sachsen/.
Dazu passt wohl auch die Tatsache, dass gerade in der AfD nicht wenige Lehrer aktiv sind und es zum Leidwesen vieler Eltern auch eine hohe Anzahl Lehrer gibt, die glühende und bekennende AfD-Befürworter sind. Der Faschist Björn Höcke ist Geschichtsleher! Wenn Sie also schon von “braunen Schnittmengen” schreiben, wieso dann nicht in Bezug auf die Lehrerschaft in Deutschland? Dies meine ich vollkommen ernst, die Thematik fände ich lohnend.
Andere Parteien öffnen sich langsam. Hier sei die FDP in Brandenburg genannt, die Grünen in Sachsen, die jungen Liberalen in NRW und die Linke in Hamburg, repräsentiert durch die Fraktionsvorsitzende Sabine Boeddinghaus, mit der wir im September 2018 ein Symposion im Hamburger Rathaus veranstaltet haben (Infos hier: https://www.linksfraktion-hamburg.de/veranstaltungsbericht-fachtag-schulpflicht-schulzwang-recht-auf-bildung/). Die Unterstellung, eine Öffnung der Schulpflicht sei zuallererst ein politisches Anliegen von rechts, ist absurd!
Diese Mail ist mir recht lang geraten. Dennoch möchte ich Ihnen zum Abschluss einige Dinge ganz persönlich schreiben. Meine Tochter hat sich im September 2019 nach nur sechs Schulbesuchstagen aktiv dagegen entschieden, weiter in die Schule zu gehen. Zuvor hatte sie sich brennend auf die Schule gefreut, wurde dann jedoch bitter enttäuscht von der Lernumgebung, die sie vorfand. Ein Wechsel an eine freiere Schule, mit ausreichend freiem pädagogischen Konzept, war nicht möglich, weil in erreichbarer Umgebung einfach keine vorhanden sind. Seither verteidigen wir als Eltern das fundamentale Recht unserer Tochter, „Nein“ zu etwas zu sagen, das ihr nicht gefällt und ihr nicht gerecht wird. Wir müssen dennoch damit rechnen, dass die Tatsache, dass wir Eltern ihre Selbstbestimmung respektieren, als Kindeswohlgefährdung gewertet wird. Wir stehen deshalb im guten Kontakt mit dem Jugendamt. Wir suchen aktiv und von Anfang an den Kontakt und das konstruktive Gespräch mit dem zuständigen Schulamt und unserem Schulministerium. Das Bild welches Sie in ihrem Artikel zeichnen, wird uns als Familie nicht gerecht, es ist ein Zerrbild. Und das trifft mich ganz persönlich zutiefst.
Ich will als letztes noch erwähnen, dass ich seit Jahren Menschen vernetze, die sich fürs Freilernen interessieren. Ich organisiere regelmäßige Freilerner-Treffen. Hier lässt sich feststellen, dass ein enorm hoher Anteil unserer Elternschaft, aber auch unter den Sympathisanten von Beruf Lehrer sind. Sie sehen das auch an den Unterzeichnern der oben verlinkten Erklärung zum Recht auf Selbstbestimmung in der Bildung.
Ich freue mich, wenn Menschen aus der GEW bereit wären, sich mit mir oder anderen Aktivisten der Freilerner-Szene in Verbindung zu setzen und über dieses Thema in einen Austausch zu kommen. Eine der künftigen Ausgaben von „E&W“ wäre natürlich ein toller Ort dafür. Dieses Schreiben werde ich auch als offenen Brief im Blog-Bereich meiner Info-Website www.freilerner-kompass.de <http://www.freilerner-kompass.de/> veröffentlichen.
Viele freundliche Grüße aus Grevenbroich sendet Ihnen
Stefanie Weisgerber
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