Rund eine Woche nach der katastrophal schlecht aufbereiteten Sendereihe auf SWR2 „Schule? Nein!“, die ich hier in einem offenen Brief an die zuständige Redaktion kritisiert habe, erschien im Hessischen Rundfunk ein ungleich besserer Beitrag zum Thema Schulpflicht, Schulverweigerung und Freilernen.
So hervorragend wie der Bericht dieses mal auch recherchiert und aufbereitet war – ein Interview mit Ilka Hoffmann vom geschäftsführenden Vorstand der Lehrergewerkschaft GEW, Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, veranlasste erneut jemanden dazu, einen offenen Brief zu verfassen, der bereits am heutigen Nachmittag an Frau Hoffmann per Email ging.
Dieses Mal stammt er nicht aus meiner Feder, sondern wurde von einem befreundeten Historiker, Autor und Publizist verfasst, der mir freundlicher Weise erlaubt hat, diesen Brief hier in anonymisierter Form zu veröffentlichen:
Sehr geehrte Frau Hoffmann,
zum Thema Schulverweigerung, besonders “Freilernen” forsche bzw. arbeite ich als Historiker, Autor und Publizist seit Jahren. Daher verfolgte ich Ihre Interviews regelmäßig. Aus Anlass Ihres letzten Interviews vor wenigen Tagen im HR möchte ich Ihnen schreiben.
Sie erklären wiederholt, dass “Schulpflicht auch eine Pflicht des Staates sei, ins Bildungssystem zu investieren” – und Sie malen, wenn Schulpflicht aufgeweicht würde, das Bild eines ausgezehrten Schulwesens nach US-Vorbild an die Wand. Dies ist nicht korrekt! Der staatliche Erziehungsauftrag ebenso wie die Pflicht, ein Schulwesen für alle zu finanzieren, die es nutzen möchten, ergeben sich zwingend aus Art. 7 GG. Die Schulpflicht ist dort aber nicht geregelt. Sie findet sich vielmehr in den Landesverfassungen. Beides hat miteinander rechtlich nichts zu tun. Art. 7 GG Grundgesetz sichert Deutschland gegen das von Ihnen beschriebene Szenario vollständig ab; im Übrigen spräche ja nichts dagegen, im Zuge einer Liberalisierung des Schulzwangs diese staatliche Pflicht zur Schulfinanzierung deutlich und präziser zu formulieren, wenn man das will. Das von Ihnen wiederholt vorgebrachte Argument ist also mit Blick auf die Rechtslage in Deutschland falsch.
In vielen Interviews weisen Sie – oft fast wörtlich gleichlautend – darauf hin, dass Schulpflicht ja auch ein Recht auf Bildung sei. Ich halte das für eine geradezu Orwellsche Begriffsverdrehung. Eine Pflicht ist kein Recht! Es wäre ein Leichtes, im Grundgesetz und in den Landesverfassungen ein Recht auf Bildung zu verankern, das Kinder natürlich auch gegen den Willen ihrer Eltern durchsetzen können müssten. Dass eine Schulpflicht dafür nicht nötig wäre, zeigt das Beispiel fast aller anderen westlichen Länder. Dass viele Kinder in Deutschland faktisch nicht in den Genuss einer guten Bildung kommen, ist ohnehin bekannt. Über die Mechanismen und Kontrollen, die erforderlich sind, wenn die Schulpflicht endlich auch bei uns liberalisiert wird, könnte und müsste man reden. Verhindert wird dies durch das verbohrte und betonharte Festhalten an der absoluten Schulpflicht, gegen die es – Prof. Reimer aus Gießen war ja auch in der Sendung – übrigens auch ernstzunehmende verfassungsrechtliche Einwände gibt.
Was im übrigen die Leistungen des Schulsystems für soziale benachteiligte Kinder angeht, so werden Sie wissen, dass der Zusammenhang von Bildungs-“Erfolg” (was für ein absurdes Kompositum!) und sozialer Herkunft in Deutschland sehr stark ist, ungeachtet aller Reformen. Sie kritisieren die US-Studien, die es zu schulfrei lebenden Kindern gibt, weil dort die Schulen so schlecht seien, dass sie als Maßstab nicht taugen. Liebe Frau Hoffmann, was Sie verschweigen: Es gibt für Deutschland – und auch weltweit – umgekehrt keine einzige Studie, die empirisch zeigt, für wen es besser ist, mit Schule aufzuwachsen als ohne. Dass dies für alle oder auch nur die Mehrheit gilt, ist einfach ein Glaubenssatz. Es wäre aus Sicht hunderter Familien in Deutschland wunderschön, wenn wir Studien haben könnten, um diese Dinge zu prüfen! Ich würde beispielsweise sehr gerne untersuchen, wie es um die Sozialkompetenz im Vergleich bestellt ist, das wäre ein hochinteressantes Forschungsfeld. Solange aber Familien, deren Kinder die Schule nicht besuchen möchten, hierzulande illegalisiert und bestraft, in weiten Teilen ins Ausland getrieben werden, wird genau das nie möglich sein. Diese Selbstimmunisierung des deutschen Schulrechts gegen die Empirie ist ein Skandal, und einer Gewerkschaft, die das schöne Wort “Wissenschaft” im Namen führt, steht es wahrlich schlecht an, eine solche Situation auch noch zu verteidigen.
Vielleicht interessieren Sie sich für ein wissenschaftliches Kolloquium, das im am 19. Oktober in Gießen stattfindet und von der Professur für öffentliches Recht und Rechtstheorie der Universität Gießen in Zusammenarbeit mit der Freilerner-Solidargemeinschaft e.V. veranstaltet wird (https://www.freilerner-solidargemeinschaft.de/). Dies ist ein Verein, der durch den staatlichen Verfolgungsdruck in Not geratene Familien berät und unterstützt. Der Verein führt jährlich ein wissenschaftliches Kolloquium zu rechtlichen und pädagogischen Fragen schulfreier Bildung durch, das kommende trägt den Titel: “Bildung ohne Schule? Freilernen als Herausforderung für Rechts- und Sozialwissenschaften”. Infos zu vergangenen Kolloquien hier: https://www.fsg-kolloquium.de/. Vielleicht ist es für Sie, die seit Jahren von den Medien mit immer gleichlautenden Fragen “gelöchert” wird, ja interessant, am 19. Oktober teilzunehmen? Es sprechen normalerweise nicht zur Wissenschaftler, sondern man kommt auch mit “Betroffenen ins Gespräch”. Ich fände es schön, wenn Sie hierfür offen wären; vielleicht ist es ja auch für Kollegen oder Mitarbeiter interessant. Denn als Linker und Sozialdemokrat bedauere ich es seit langem, dass die in vieler hinsichtlich vorbildliche GEW ein so schwieriges, oft von Unkenntnis geprägtes Verhältnis zu schulfreier bzw. besser: selbstbestimmter Bildung hat.
Mit freundlichen Grüßen …
Leave a Reply