Informationen für die breite Öffentlichkeit

Du hast irgendwo vom Freilernen gehört, von Kindern, die nicht zur Schule gehen, von Eltern die das auch noch unterstützen? Du bist nicht unmittelbar betroffen, möchtest dich aber trotzdem darüber informieren? Super! Ich freue mich, dass du hier bist. Wenn immer mehr Menschen, so wie du, bereit sind, sich mit dem Thema der selbstbestimmten und selbstorganisierten Bildung auseinanderzusetzen und bestenfalls noch darüber zu sprechen, hilft dies Vorurteile abzubauen, schulfreie Lebensentwürfe zu legalisieren, und trägt dazu bei, dass eine wirklich bunte und vielfältige Bildungslandschaft endlich Realität werden kann.
Ich möchte hier Antworten auf die gängigsten Fragen und Einwände geben, die von außen an Freilerner, so nennen sich in Deutschland die meisten Kinder und Jugendlichen bzw. Familien, die bewusst ohne Schule leben, herangetragen werden.

Was genau bedeutet Freilernen und worum geht es euch Freilernern eigentlich genau?
Freilernen bedeutet, etwas vereinfacht dargestellt, dass ein junger Mensch selbst seine Lerninhalte bestimmt. Er bestimmt, wann und wie er etwas lernt. Dies kann geschehen, indem er selbstständig Bücher liest zu Themen, die ihn interessieren, indem er jemanden bittet, ihm etwas über das Interessensgebiet zu erzählen, indem er anderen über die Schulter schaut, durch selbstständiges Ausprobieren oder häufig auch ganz informell und organisch, während vordergründig gar nicht beabsichtigt ist, überhaupt etwas zu lernen.
Gerade im Spiel werden nebenbei viele wertvolle Erfahrungen gemacht, die man mit einem analytischen Blick von außen ganz klar als Lernerfahrungen klassifizieren kann. Zudem sind die Lernbedingungen in der Spielsituation (was neurobiologisch sehr gut belegt ist) meist besonders günstig, da wir uns spielend im Zustand echter Begeisterung befinden und unser Gehirn das dann Erlebte optimal abspeichern und verwerten kann.
In einer klassischen Schulumgebung, aber auch in den meisten „Alternativ“-Schulen sehen viele junge Menschen, die den Weg des Freilernens für sich selbst wünschen, nicht die ideale Umgebung, um solche Lernerfahrungen zu machen. Es ist daher das zentrale Anliegen der deutschen Freilerner-Bewegung, die übrigens in sich durchaus heterogen ist, dass die Schulpflicht in diesem Land abgeschafft wird. Nur so können ausreichend große Spielräume für freie Bildungsmöglichkeiten entstehen.

Die aktuelle Situation sieht so aus, dass viele Familien sich genötigt sehen, ins Ausland zu gehen, wo es vielfältige Möglichkeiten in Hinsicht auf freie Bildung gibt. Diese Familien wollen zumeist eigentlich gern weiterhin in Deutschland leben, sie lassen notgedrungen ihr Heim und ihr soziales Umfeld zurück. Andere Familien bleiben aus genau diesem Grund hier im Land, sehen sich dann jedoch genötigt, im Untergrund zu leben, mit möglicherweise schlimmen juristischen Folgen, die so ein Versteckspiel für sie und ihre Kinder mit sich bringen kann.
Wieder andere Familien setzen sich ganz offen mit Behörden, Schulämtern und Gerichten auseinander, müssen aber sehr viel Energie, Zeit und auch Geld investieren, um die Interessen ihrer Kinder hier zu wahren, und schlimmstenfalls kann ihnen sogar ein (teilweiser) Entzug des Sorgerechts drohen.
Der sicherlich überwältigende Anteil an Familien, die von verschiedenen Formen der Schulangst, des Schulstresses, der mehr oder weniger grundsätzlich betriebenen Schulverweigerung, von Mobbing, Unlust, Langeweile etc. betroffen sind, beugt sich der in Deutschland bestehenden Schulpflicht, obwohl die Schule ihren Kindern nicht gut tut und sie diese nicht aus freien Stücken besuchen würden. Das liegt auch daran, dass vielen nicht einmal bewusst ist, dass in den meisten anderen Ländern die Rechtslage durchaus anders ist und dass z.B. in England, den USA und Kanada die meisten Menschen mit Unverständnis reagieren würden, wenn sie erfahren, dass der deutsche Staat alle Kinder in die Schule zwingt.
Wie du dir sicher vorstellen kannst, resultiert aus diesem Umstand heraus eine Menge Leid, Ungerechtigkeit, Wut und viele, viele Probleme, die nicht nur die jungen Menschen und ihre Familien selbst stark belasten, sondern die auch in die Schulen und letztlich auch in unsere gesamte Gesellschaft hinein ausschlagen. Dazu gehört auch, dass Empfindungen wie Unlust und Langeweile, die fast jeder Schüler schon einmal bzw. oft erfahren hat, trivialisiert werden als etwas, wo man eben durch muss – etwas, das irgendwie nicht als Problem zählt, weil es ja „nur“ Kinder sind. Dies wollen und können wir nicht mehr hinnehmen. Diese Situation zu verändern ist unser Ansinnen. Die Schulpflicht muss fallen.

Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass sich an diesem Punkt viele Einwände bei dir auftun werden.
Die Institution Schule gehört in unserer Kultur zu den absoluten Grundfesten. Wir alle haben sie durchlaufen und auch wenn sicherlich fast jeder einmal eine Zeit lang nicht so gern dorthin gegangen ist, können die meisten von uns sich doch kaum vorstellen, was aus uns nur ohne sie geworden wäre. Schule ist in unserer Gesellschaft eben alternativlos, oder?

Im Folgenden möchte ich mich gern den Einwänden widmen, die du vermutlich gegen das Freilernen haben wirst, die in jedem Fall die meisten Deutschen dagegen äußern, wenn man sie fragt, und die ich hoffentlich alle auf für dich befriedigende Weise entkräften kann. Also, los geht’s:

Aber Kinder brauchen doch andere Kinder:
Ja, da hast du natürlich recht. Kinder zeigen uns ab einem gewissen Alter ganz deutlich, dass sie den Kontakt mit anderen Kindern sehnlichst wünschen und aktiv suchen. Wenn sich die Möglichkeit dazu bietet, lieben Kinder es, sich in großen, altersgemischten Gruppen von Kindern und Jugendlichen zu bewegen. Die Kleinen schauen sich viel von den Großen ab und profitieren von deren Erfahrungsschatz und ausgereifteren Fähigkeiten, die Großen hingegen lernen im Umgang mit den Kleinen sehr viel Rücksichtnahme und Fürsorglichkeit. Die meisten Erwachsenen werden dies hoffentlich noch aus der eigenen Kindheit kennen, als es noch üblich war, an den Nachmittagen und den Schulferien mit allen verfügbaren Kindern aus der Nachbarschaft zu spielen und die Gegend unsicher zu machen.
Diesen wohltuenden und sinnvollen Umgang mit anderen Kindern, erlebt man hingegen nicht in der typischen Klassensituation, die unsere Kinder zu einem Großteil ihrer Zeit in der Schule erleben. Die starke Vergleichbarkeit innerhalb der enggefassten Altersgruppe sorgt dafür, dass die Kinder eben nicht viel voneinander lernen können. Sie sorgt vielmehr dafür, dass eine Art Zwangsnormierung stattfindet und jegliche Besonderheit des Einzelnen als etwas Schlechtes erscheint. Gruppenzwang, Hänseleien und Ausgrenzung sind die wohlbekannten Auswüchse hieraus. Aber auch unabhängig von solchen Erscheinungen gilt: Die Klassensituation ist für soziales Lernen regelrecht ungünstig, denn sie ist sozial steril! Von einer Förderung der Kommunikationsfähigkeit kann kaum gesprochen werden, weil man ja 90% der Zeit nicht miteinander reden darf. Immer noch ist Frontalunterricht die Regel (Studie zufolge 80-90%), und die Interaktion der Kinder untereinander ist während des Unterrichts naturgemäß etwas höchst Unerwünschtes. Die kurzen Pausen dazwischen können das nur sehr schlecht aufwiegen, und für manche Schülerinnen und Schüler sind diese auf Grund von Mobbing und Gewalt sogar  die absolut schrecklichsten Momente während des ganzen Tages.
Wenn man nun einmal die Vorstellung ablegt, dass das alles eben so sein muss, kann man sich in die Lage all jener Kinder versetzen, die hier überhaupt nicht sein wollen, die eben nur hier sind, weil man sie dazu zwingt. Diese einfache Tatsache gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen der Schule: Alle wissen darum, aber niemand darf es aussprechen, dass praktisch niemand von denen, die im Unterricht sitzen, diesen wünschen, und die meisten langweilen sich einen Großteil der hier verbrachten Zeit. Die an sich schon ungünstigen Faktoren in der sozial verarmten Klassensituation werden dadurch noch weiter verschärft. So werden die Kinder, die dazu neigen ihren Selbstwert zu steigern, indem sie andere Kinder drangsalieren, in ihrer Hoffnungslosigkeit noch übergriffiger, während diejenigen, die nicht gern auffallen, in ihrer Ohnmacht noch stiller und angepasster werden und diejenigen, die ihre Besonderheiten nicht verbergen können oder wollen, sich weiter absondern und im Umkehrschluss noch stärker ausgegrenzt werden. Und sicher, ein großer Teil der Kinder findet die Schule irgendwie okay, aber wer kann sich schon daran erinnern, dass man wirklich, aus eigenem Willen die Tatsache, dass man da sein musste, begrüßt hat? Kaum jemand, denke ich. Und das Schlimme ist, dass fast alle Erwachsenen im Nachhinein, wenn sie dieses System hinter sich haben, die Erfahrung der eigenen Unfreiheit trivialisieren, kleinreden oder beiseitewischen.
Wenn du also zu Recht anführst, dass Kinder andere Kinder treffen wollen, kann ich dir darauf entgegnen, dass der Schulzwang hierfür keine günstige Voraussetzung bietet. Günstig sind hingegen all jene Situationen, wo Kinder ganz organisch und aus freien Stücken aufeinander treffen. Dies kann der Turnverein sein, wo sich jene Kinder treffen, die gerne turnen, der Chor, in dem man gemeinsam singt, weil man eben gerne singt, oder auch einfach nur das nahegelegene Waldstück, wo man in seiner Freizeit rumtobt, weil man eben Lust hat, in der Natur draußen zu sein. Oder: es kann auch ein Klassenraum sein, in dem man sich freiwillig mit anderen Kindern zusammen einfindet, weil man eben ein eigenes Interesse daran hat, genau das zu lernen, was dort gerade unterrichtet wird.

Schule sorgt doch für gute Sozialisation:
Wie die Schule oftmals für Ausgrenzung, Konformismus, und Sich-in-seiner-Haut-nicht-wohlfühlen sorgt, habe ich oben bereits dargestellt. Die Schule, wie sie landläufig meist ist, bringt aber weitere Schwierigkeiten mit sich, die einer guten Sozialisation oftmals abträglich sind.
Wir leben hier in Deutschland in einem demokratischen und freiheitlichen Land. Wir haben ein wunderbares Grundgesetz, welches das Individuum schützt und ihm maximale Entfaltungsmöglichkeiten gewährleistet.
Da zeigt die Schule sich in krassem Gegensatz. Sie ist die große Ausnahme. Sonst nur zu vergleichen mit Gefängnissen und Psychiatrien, und um da reinzukommen, muss man immerhin etwas getan haben. Die Schule beschneidet auf massive Weise persönliche Grundrechte und man merkt ihr an vielen Stellen an, dass sie ein Relikt aus einer Zeit ist, als Demokratie und Selbstbestimmung noch in den Bereich unerhörter Utopie gehörten. Sie ist in ihrer heutigen Form ein Kind des 19. Jahrhunderts.
Anstatt eigenmotiviert Wissensgebiete zu erarbeiten, werden wir mittels Belohnung und Bestrafung gefügig gemacht. Belohnung ist eine gute Note, Bestrafung ist eine schlechte. Die Schule schreibt sich auf die Fahnen, eigenständige, mündige Menschen auszubilden, in ihrer Praxis verlangt sie aber 9 bis 12 Jahre Gehorsam und lässt das Hinterfragen in der Regel nur als eine gestellte Arbeitsaufgabe zu, wo es dann in der Klausur heißt: „Bilden Sie sich eine Meinung und begründen Sie.“ Welch ein Paradox! Kreativität soll gefördert werden, aber Bilder im Kunstunterricht werden benotet. Wir sollen lernen, uns gegenseitig zu unterstützen und an unseren unterschiedlichen Qualitäten gemeinsam zu wachsen, und doch treten wir in der Schule, durch Noten bedingt, strukturell in scharfe Konkurrenz zueinander. Alles in allem sind das höchst unsoziale Aspekte, die uns als Gesellschaft wahrlich nicht gut tun und die bei genauer Betrachtung sicherlich nicht dem entsprechen, was wir objektiv als gute Sozialisation betrachten würden. Stell dir vor, die Eltern eines Kindes würden ihren Kindern ständig Aufgaben stellen und sie benoten, und nach ein paar Jahren würde das bessere Kind in ein größeres, helleres Zimmer kommen (Gymnasium), das schlechtere in ein kleines, dunkles Kabuff mit wenig Chancen, da herauszukommen (Hauptschule). Würdest du das als gute Art ansehen, mit Kindern umzugehen?

Man kann doch nicht immer nur das machen was man will /Man muss doch lernen mit Frustration umzugehen:
Natürlich kann man nicht immer nur das machen, was man will. Dieser Umstand ist auch jedem Sechsjährigen sonnenklar. Es gibt unendlich viele Situationen im Leben, in denen man den eigenen Willen zurücknehmen muss. Sei es, weil man einem anderen Menschen zuliebe zurücksteckt, sei es weil einem Wunsch ganz elementare Dinge wie z.B. Naturgesetze, zu wenig Geld oder mangelnde zeitliche Möglichkeiten entgegenstehen. Wenn es nachvollziehbare Gründe gibt, bei irgendetwas nicht seinem Willen nachgeben zu können, haben wir Menschen in aller Regel wenig Probleme, uns damit zu arrangieren.
Warum es darüber hinaus allerdings notwendig sein soll, künstlich einen Rahmen zu gestalten, der uns über viele, viele Jahre hinweg möglichst viel Ungemach bereitet, damit wir die Einsicht trainieren können, dass wir nicht immer nur das machen können, was wir wollen, obwohl entwicklungspsychologisch gesehen dieser Lernakt wahrscheinlich bereits im ersten Lebensjahr grundlegend abgeschlossen ist, erschließt sich mir persönlich überhaupt nicht.

Aber man benötigt doch ein bestimmtes Grundwissen und gewisse Kulturtechniken:
Lesen, Schreiben, Rechnen, Fremdsprachenkenntnisse sowie eine grundlegende Basis in relevanten Wissensbereichen: das alles ist nötig um als Mitglied in unserer Gesellschaft agieren zu können und das nötige Rüstzeug zu haben, um sich beruflich zu entfalten. Da stimme ich zu, sehe darin aber keinen Widerspruch zu einem Nichtbesuchen der Schule. Inzwischen gibt es Erfahrungen von vielen Millionen Menschen in Industrieländern der westlichen Welt, die niemals oder nur stark verkürzt eine Schule besucht haben, und diese Erfahrungen zeigen, dass man dieses grundlegende Wissen mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit auch ganz nebenbei erwerben wird. Es gibt auf diesem Gebiet wenig wissenschaftliche Untersuchungen, weil die Pädagogik und die Lernpsychologie wie die gesamte Gesellschaft das Thema schulfreie Bildung gerne ignorieren. Der britische Bildungsforscher Alan Thomas, der im Bereich für informelle Bildung an der University of London doziert, hat dies jedoch im Rahmen seines Buches „Informelles Lernen“ eingehend untersucht und veröffentlicht. Hier findest du den Link zum deutschen Verlag. Auch sein amerikanischer Kollege, der Evolutionspsychologe Peter Grey, Professor am Boston Collage, hat schon entsprechende Studien mit erwachsenen Freilernern durchgeführt und kommt zu gleichen Ergebnissen. Hier findest du seine Studie.
Letztlich ist es ganz logisch: Überall sind wir umgeben von Schrift und Sprache. Egal ob wir einkaufen gehen, einen Kuchen backen oder ein Möbelstück ausmessen – überall begegnet uns Mathematik. Früher oder später wird jeder junge Mensch sich aktiv damit auseinander setzen wollen. Das ist ganz selbstverständlicher Teil unserer Natur. Der Mensch will seine Umgebung verstehen und sich in ihr zurechtfinden, die Kultur, in der wir leben, diffundiert wie im Prozess der Osmose in die Köpfe derer hinein, die in ihr aufwachsen.

Aber wie lernt man denn dann ohne Schule?
Die Bildung ohne Schulbesuch kann sehr vielschichtig sein. Ein überwältigend großer Teil findet sicherlich völlig informell statt, das heißt ohne dass der Lernende sich aktiv bemüht, jetzt gerade konkret Wissen anzuhäufen.
Dies kann man sich ähnlich vorstellen wie bei kleinen Kindern, die ja auch enorme Lernforstschritte machen, bevor sie sechs Jahre alt werden, ohne das wir ihnen aktiv etwas beibringen. Auch nach der Schule als erwachsene Menschen bilden wir uns täglich weiter, ohne aktiv lernen zu wollen. Jede Fernsehsendung, die wir sehen, jedes Gespräch, das wir führen, jeder Spaziergang sorgt dafür, dass sich unsere Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern, unsere Weltsicht entwickelt. Je relevanter, authentischer und lebensnäher dabei die Situation ist, in der wir uns befinden, umso nachhaltiger ist dann eben auch die Lernerfahrung.
Dennoch gibt es viele Situationen, in denen ein freilernender junger Mensch sich auf eine Art und Weise weiterbildet, die uns eher als „Lernen“ vertraut ist. Er sucht sich Literatur zu einem bestimmten Wissensgebiet, recherchiert im Internet oder fragt jemanden, der sich eventuell mit einem Thema schon besser auskennt. In manchen Situationen kann es sogar vorkommen, dass ein freilernender junger Mensch Lust hat, an formellem Unterricht teilzunehmen. In Großbritannien zum Beispiel hat ein „unschooled child” sogar die Möglichkeit, zeitweilig und in selbstgewählten Teilbereichen am normalen Schulunterricht zu partizipieren ohne dass für es hieraus weitere Verpflichtungen entstünden. Das ist natürlich nur möglich, weil es dort – wie in vielen anderen westlichen Ländern – eben keine Schulpflicht im deutschen Sinne gibt.
Ein Phänomen, auf das man in der Literatur über das Leben ohne Schule immer wieder stößt, ist, dass junge Freilerner oft projektbezogen arbeiten. Im Lebensalltag stoßen sie auf einen Umstand, der sie näher interessiert, und die weitere Beschäftigung damit löst dann sozusagen „Lern-Ketten“ aus. Ich möchte hier ein Beispiel dafür geben: Ein Jugendlicher sieht eine Fernsehsendung über den 30 Jährigen Krieg, die ihn beeindruckt. Er beschäftigt sich daraufhin mit der Reformation, mit der Sozial-Geschichte der frühen Neuzeit und den Territorialentwicklungen Europas seit dem Untergang des römischen Reiches. Außerdem unternimmt er Tagesausflüge nach Münster und Osnabrück und besucht dort die historischen Stätten des westfälischen Friedens. Dabei findet er bei Museumsbesuchen großen Gefallen an den alten Kaligrafien der ausgestellten Dokumente und beginnt zuhause selbst ein Buchprojekt mit alten Schreib-, Mal-, Druck- und Buchbindetechniken. Möglicherweise besucht er dabei einen Buchbinder und macht dort später ein Praktikum… Das Beispiel ist konstruiert, aber diese Dinge passieren! Auf solche Art und Weise kommen Freilerner mit vielen Themen tiefer in Kontakt, als es bei normal beschulten Menschen der Fall sein dürfte. Andere Themen, das ist auch klar, werden sie vielleicht niemals auch nur streifen. Aber bedenke, wie viel Lücken jeder hat, der die Schule besucht – was glaubst du, wie viel Prozent des Weltwissens in den Lehrplänen steht? Ich glaube, dass es nicht einmal ein Promille ist. Sicher kann man sich in jedem Fall sein, dass es für Freilerner stets einfach sein wird, sich mit neuen Themen auseinander zu setzen. Die Annahme, dass ein freilernender Mensch, der nicht in einem festgelegten Alter gezwungen wurde, sich mit von außen bestimmten Themen auseinander zu setzen, dadurch Nachteile hat, ist entwicklungspsychologisch unplausibel und im übrigen auch durch keinerlei empirische Studien belegt! Und mehr noch: Die oft beschworenen Vorteile der Schule müssten, da die Schule erhebliche Grundrechtseinschränkungen für junge Menschen bedeutet, eigentlich umgekehrt im Vergleich mit einer unbeschulten Kontrollgruppe erst nachgewiesen werden. Es gibt tatsächlich keine solche Untersuchung. Wissenschaftlich gesehen, sind die Vorzüge der Schule tatsächlich bloße Behauptung, oder besser gesagt, Ergebnis einer gesellschaftlichen Konvention. Wir machen es so, weil es vermeintlich immer so war.

Und wenn ein Freilerner später mal studieren will …
… dann hat er auch dazu die Möglichkeit. Die vorausgesetzten Schulabschlüsse lassen sich in Deutschland in allen Bundesländern auch extern abschließen. Eine Vielzahl von freilernenden Menschen hat bisher schon bewiesen, dass das gezielte Lernen für diese Schulabschlüsse keinerlei grundsätzliche Probleme bereitet. Es gibt inzwischen eine Reihe von Medienberichten über junge Freilerner mit exzellenten Abiturnoten. Darüber hinaus gibt es auch immer mehr Hochschulen, die neben den bisher üblichen Zugangsvoraussetzungen auch andere Aufnahmemöglichkeiten zulassen, wie Eignungstests oder persönliche Aufnahmegespräche. In den USA, wo das Unschooling schon deutlich etablierter und bekannter ist als hierzulande, senden einige Hochschulen sogar Talentscouts aus, um unbeschulte Menschen als Studenten zu gewinnen, weil man dort ihre speziellen Herangehensweisen und ihren ausgeprägten Forscherdrang sehr zu schätzen weiß.

Was sagen künftige Arbeitgeber? Wie wollen die mal Geld verdienen?
Das vielfältige Spektrum an Freilerner-Literatur sowie auch die oben bereits zitierte Studie des Amerikaners Peter Grey zeigen deutlich, dass überdurchschnittlich viele Freilerner von vornherein selbstständig arbeiten und davon gut leben können. Zum anderen können viele bereits in jungem Alter Kontakte zu Menschen in der Arbeitswelt knüpfen, da sie beispielsweise schon Praktika absolviert haben zu Themengebieten, die sie begeisterten. Auch beginnen viele Freilerner schon früh damit Nebenjobs auszuüben, aus denen sich dann eine anspruchsvollere Dauerbeschäftigung entwickeln kann. Nicht zuletzt kommen auch immer mehr große Firmen zu der Erkenntnis, dass man bei Bewerbern gar nicht mehr auf Schulzeugnisse oder Noten, sondern den guten Gesamteindruck einer Bewerbung achten sollte, auf die Aufmachung, das Anschreiben oder eben auch den absolvierten Eignungstest. Bemerkenswert ist noch, dass viele Menschen, die nicht oder nur kurz die Schule besucht haben, breit aufgestellt sind, was ihren Broterwerb betrifft. Der Franzose André Stern zum Beispiel, der als Freilerner einige Berühmtheit erlangen konnte (seine persönliche Geschichte ist nachzulesen in seinem Buch „… und ich war nie in der Schule“ , das in Deutschland ein kleiner Bestseller war), generiert sein Einkommen als Gitarrenbauer, durch journalistische Tätigkeiten, als Autor, als Vortragsredner, als Berufsmusiker und einiges mehr. Letztlich ist die Tatsache nicht zu vernachlässigen, dass ein freilernender junger Mensch im allgemeinen sehr genau darüber Bescheid weiß, was er gut kann, was ihm gefällt und was ihm leicht von der Hand geht. In einigen Bereichen kann man da oft schon früh von regelrechtem Expertentum sprechen. Dies stellt natürlich auch einen immensen Vorteil gegenüber jungen Menschen dar, die gerade die Schule verlassen und noch gar nicht so genau wissen, wo sie stehen und was sie wollen, was bekanntlich kein Einzelfall ist.

Aber wie wollen Freilerner sich später mal im Job unterordnen?
Ein weiterer häufig geäußerter Einwand im Zusammenhang mit der Arbeitswelt lautet, dass es jungen Menschen, die sich niemals dem Diktat anderer unterordnen mussten, doch sicherlich große Schwierigkeiten bereiten wird, Arbeitsbefehle zu akzeptieren. Man glaubt, sie würden nicht ertragen, dass sie sich nicht immer nur damit beschäftigen können, was ihnen Spaß macht. Viele denken sogar, dass jeder, der keine Schule durchlaufen hat, sicherlich schon Schwierigkeiten damit haben wird, morgens pünktlich auf der Arbeit zu erscheinen.
Hier zeigt sich in der Praxis das auch diese Einwände haltlos sind. Wenn die Gründe für den jeweiligen Arbeitsauftrag oder für den pünktlichen Arbeitsbeginn ersichtlich sind, dann wird ein unbeschulter Mensch genauso wenig Schwierigkeiten mit deren Einhaltung haben wie jeder andere Mensch. Davon einmal abgesehen, sollte man beachten, dass auch die Arbeitswelt inzwischen immer stärkeren Veränderungen unterliegt. Es häufen sich Gleitzeit-Modelle, Telearbeitsverhältnisse, Teilzeitregelungen und eine wachsende Bandbreite an freiberuflichen, selbstständigen oder sonst wie selbstorganisierten Tätigkeitsfeldern. Der klassische, streng reglementierte 9-to-5-Job mit starren Weisungen ist vom Aussterben bedroht und ich persönlich bin geneigt zu sagen: Gut so!“
Sollte sich ein junger Freilerner trotz allem für eben genau solch eine unflexible Arbeitsstelle entscheiden, wird er auch mit ziemlicher Sicherheit mit deren Bedingungen klarkommen. Abgesehen davon: Die Medien sind voll mit Berichten über ausbildungsuntaugliche Jugendliche, die all das oben Genannte nicht können. Sie kommen zu spät, sie sind, so klagen die Arbeitgeber, frech, sie können die Grundrechenarten nicht, und sie haben kein Durchhaltevermögen. Und diese Jugendlichen haben alle eines gemeinsam: Sie haben die Schule durchlaufen… Noch Fragen?

Mir hat die Schule ja auch nicht geschadet:
Ich freue mich von Herzen für jeden Menschen, der dies so vollumfänglich unterschreiben kann. Und in der Tat: Ich bin mir sicher, dass es viele Menschen gibt, denen die Art und Weise, wie Schule bis heute funktioniert grundsätzlich zusagt. Für viele andere Menschen ist es aber leider nicht so. Es ist nicht zu leugnen. Es gibt viele Kinder die unter den Hänseleien ihrer Mitschüler leiden, viele Menschen, deren Biorhythmus etwas anderes vorgibt, als um halb sieben aufzustehen, es gibt viele, für die es eine Qual ist, den gesamten Vormittag still zu sitzen, denen es einer Folter gleich kommt, mit Themen belästigt zu werden, die für sie persönlich gerade nicht „dran“ sind und deren Selbstachtung durch Benotung, Bewertung, egal ob Lob oder Tadel und Strafe, zerstört wird. Unter dem Druck der herrschenden Ideologie von „Schule muss sein“ verleugnen die meisten dieser Menschen hinterher das Negative, verklären ihre Schulzeit nostalgisch, was verständlich ist, weil es eben die Jugendzeit ist, oder sagen ganz einfach, so schlimm war es auch nicht, und ohne diesen oder jenen Lehrer oder dieses oder jenes Fach wäre ich heute nicht der, der ich bin. Nun, das ist eine Tautologie, denn natürlich ist man der, der man ist, weil man das erlebt hat, was man erlebt hat! Spricht das dagegen, dass andere es anders machen können? Ich finde nicht. Allen Menschen muss es in einem freiheitlich-demokratischen Land wie dem unseren möglich sein „Nein“ zu sagen zur Schule, egal aus welchen Gründen. Ich bin mir sicher, dass dies sogar denjenigen Menschen zugute kommen würde, denen die Schule, so wie sie ist, vollumfänglich behagt. Weil sie sich dann eben gesellschaftlich einer echten Konkurrenz stellen, sich ernsthaft weiterentwickeln müsste.

Ich habe Schule immer für eine humanitäre Errungenschaft gehalten. Und ist es nicht immer auch erstes Anliegen z.B. Kindern in der dritten Welt Schulbildung zu ermöglichen?
Ja und Nein. Diese Frage ist nicht mal eben so zu beantworten und ich muss hier etwas ausholen. Im Grunde könnte ich allein zu diesem Themenkomplex etliche Seiten schreiben, dennoch versuche ich es hier einigermaßen griffig zu umreißen, und dabei muss man mit einem historischen Rückblick beginnen.
Die Schule, wie wir sie heute kennen, hat ihren Anfang zu Zeiten genommen, als gesellschaftlich noch ganz andere Bedingungen bestanden als heute. Ein erster Verfechter von flächendeckender Schulbildung für alle Jungen und Mädchen war kein geringerer als Martin Luther. Für ihn war es ein großes Anliegen, alle Menschen in die Lage zu versetzen, die Bibel selbstständig lesen zu können. Insofern waren es dann auch deutsche Herzog- und Fürstentümer, deren Herrscher im Zuge der Reformationsbewegung zum Protestantismus konvertiert waren, die im späten 16. und 17. Jahrhundert als erste eine allgemeine Schulpflicht einführten. Hierbei wird es den Landesherren vielfach nicht um höheres Kindeswohl gegangen sein, sondern eher darum, ihre neue Glaubensausprägung gegenüber dem Katholizismus zu stärken.
Als unter dem Soldaten-König Friedrich-Wilhelm I. die allgemeine Schulpflicht in Preußen im Jahr 1717 eingeführt wurde, lag die Motivation vor allem darin, gehorsame, praktisch gut ausgebildete Soldaten für sein stehendes Heer zu gewinnen sowie qualifizierten Nachschub für den wachsenden Beamtenstab zu garantieren. Während des 19. Jahrhunderts und im Zuge der voranschreitenden Militarisierung überall in Europa einerseits und der Industrialisierung andererseits kam es recht bald zu einem regelrechtem Heißhunger nach gutausgebildeten Arbeitskräften und tauglichen Soldaten. Fabrikarbeiter mussten z.B. Gebrauchsanweisungen und Warnschilder lesen können. Gegen teilweise massive Widerstände der ländlichen Bevölkerung wurden deren Kinder mit immer härteren Maßnahmen in die Schulen gezwungen. Es geht hier nicht um eine Romantisierung des Landlebens! Aber man muss genauso illusionslos sehen, was mit der Schulpflicht angestrebt wurde: Da auf Grund der massiven Ausbeutung von Arbeiterkindern in den frühen Industriestädten die Kindersterblichkeit exorbitant anstieg und viele Heranwachsende schon im frühen Jugendalter nur noch als geschundene Krüppel zu bezeichnen waren, diente die Ausweitung der Schulpflicht auch dazu, überhaupt noch wehrfähiges „Material“ für die Armeen sicherzustellen.
Erst mit der Weimarer Verfassung im Jahr 1919 wurde eine deutschlandweite, allgemeine Schulpflicht verankert, die auch erstmals reformpädagogische Motive mit einfließen ließ, da der an der konstituierenden Regierung beteiligten SPD an einer Chancengleichheit für alle deutschen Kinder gelegen war, wohingegen es der mitregierenden Zentrumspartei eher um eine weitere Zementierung des Status Quo ging. In der Weimarer Republik scheint es noch immer Ausnahmen für den sogenannten Hausunterricht gegeben zu haben, wie verbreitet dieser war und was die Voraussetzungen dafür waren, ist aber schwer zu eruieren.
Als 1938 unter den Nationalsozialisten das Reichsschulpflichtgesetz verabschiedet wurde und damit erstmals ein Schulzwang inklusive des Mittels polizeilicher Zuführung realisiert wurde, bestand nun auch ein Instrument, die Schulpflicht lückenlos durchzusetzen. Den Nazis ging es hierbei natürlich auch um die Indoktrination der Jugend und um eine gute Vorbereitung auf den bevorstehenden militärischen Dienst. Allerdings muss man gegen manche Freilerner, die in der Schulpflicht eine reine Nazi-Erfindung sehen, eben betonen, dass es schon vor 1933 eine faktisch flächendeckende Schulpflicht gab und dass die militaristische Nazi-Agenda viel besser in der HJ und den Ordensburgen als in den traditionellen Schulen realisiert werden konnte.
Nach Kriegsende berief man sich in Adenauer-Deutschland wiederum auf eine Rückkehr zu den Grundlagen der Weimarer Verfassung, den Bildungsbereich betreffend. Der Passus aus dem Reichsschulgesetz wurde  mitübernommen, jedoch nach den Erfahrungen der Nazizeit nicht im Grundgesetz. Dort steht nur, dass das Schulwesen unter Aufsicht des Staats steht. Die Schulpflicht wurde in den einzelnen Verfassungen der Länder geregelt, die im Zeichen des Föderalismus zuständig für Bildung und Kultur waren. Zu Recht hätten damals die alliierten Besatzungsmächte, die vor der ungeheuren Aufgabe der Entnazifizierung und der Re-Education standen, kein System geduldet, das Teile der deutschen Jugend einfach sich selbst überlassen hätte. Während sich in der DDR die Polytechnische Oberschule als einheitlicher Schultyp herausbildete, kam es in den 50er und 60er Jahren unter den gebildeten Schichten Westdeutschlands zu einer starken Renaissance der humanistischen Tugenden der Aufklärung, und es entstanden viele altsprachliche Gymnasien mit entsprechendem Fächerkanon, bzw. sie wurden wieder eröffnet. Für die Arbeiter und andere ungelernte Kräfte stand dagegen die Hauptschule, für weniger qualifizierte Angestellte die Realschule zur Verfügung. Die Schule der unmittelbaren Nachkriegszeit bildete damit recht genau eine statische, im Tiefsten konservative Gesellschaftsstruktur ab.
Entwicklungshilfe wurde erst seit den 60er Jahren ein größeres Thema. In diese Zeit fällt die sogenannte Bildungsrevolution in Westdeutschland, in deren Verlauf die Gesamtschulen entstanden, das Schulsystem insgesamt geöffnet und die Inhalte modernisiert wurden. Im Sinne dieses technokratischen Optimismus war es auch ein Anliegen der jungen Entwicklungshilfe-Bewegung, den „primitiven“ Ländern der Südhalbkugel bessere Schulbildung zu vermitteln, in der Hoffnung deren Lebensstandard zu heben. Das Bohren von Brunnen und das Bauen von Schulen sind bis heute die beiden schlagkräftigsten Sinnbilder der Entwicklungshilfe. Allerdings ist durchaus unklar, ob das Versprechen der Modernisierung durch Bildung wirklich jemals eingelöst werden konnte. Linke Kritiker aus Ländern der sogenannten Dritten Welt beklagen vielmehr, dass der Importe westlicher Schulbildung mehr eine Art kulturellen Imperialismus darstelle und die Förderung von Schulen eher darauf abziele, die betreffenden Länder besser in den kapitalistischen Weltmarkt zu integrieren und also auch zu besseren Absatzmärkten für die eigenen Waren zu machen. Die Wahrheit wird wahrscheinlich irgendwo in der Mitte liegen. Wichtig ist jedoch, ein kritisches Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Schule an sich keine „heilige“ Sache ist, die in jedem Fall gut ist, sondern sie partizpiert an der herrschenden Ideologie, sie kann bestehende Ungleichheiten mildern, aber genausogut verstärken, sie kann Herrschaft bröckeln lassen und zugleich neue Herrschaft entstehen lassen. Durch Schulbildung entstand z.B. in vielen Ländern Afrikas seit den 60ern eine auf der Oberfläche „westliche“ Elite, die dann aber als Beamtenapparat korrupter und gewalttätiger Diktatoren fungierte und sich willig missbrauchen ließ, während die wirklich Armen weiter arm blieben. Schulbildung mag in vielen Fällen ein Mittel sein, um Frauenrechte zu stärken; zugleich gibt es im Bereich der Entwicklungspolitik viele Stimmen, die andere, praktischere Projekte zur Stärkung von Frauen für viel schlagkräftiger halten, z.B. Business-Schulungen für Bäuerinnen oder Mikrokredite speziell für Frauen, die kleine Summen investieren wollen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Schule bzw. deren Besuchspflicht immer auch ein Werkzeug war, um bestehende Herrschaftsverhältnisse zu stärken. Wie erfolgreich die Schule sich darin jedoch zeigt, mag zweifelhaft erscheinen, wenn man sich überlegt, wie aus den preußischen Untertanen trotz ideologisierender Beschulung die Demokraten der Weimarer Zeit hervorgingen. Wie aus diesen heraus wiederum vielfach glühende Nationalsozialisten werden konnten und wie sich später die antifaschistische 68er Bewegung entwickelte. Man muss sich vor Augen halten, dass in dieser gesamten Zeit ganz grundsätzlich die Methoden, auch weite Teile der Inhalte von Schule nicht wirklich geändert haben! Aus dem scharf antifaschistisch und sozialistisch motivierten DDR-Schulsystem wiederum ist das entstanden, was wir heute in Ostdeutschland als NPD, NSU, Pegida etc. sehen. Die Schule als Garant für Demokratie und Mündigkeit? Diese hehre Theorie besteht den einfachsten Wirklichkeitstest nicht.
Aber auch für die flächendeckende Verbreitung von Wissen und die Schaffung sozialer Gerechtigkeit ist die Schulpflicht ein mehr als zweifelhaftes Werkzeug. Historische Betrachtungen zeigen anschaulich, dass die Alphabetisierungsquote in den amerikanischen Kolonien wie z.B. in Neu-England bei nahezu 100% lag, während sie nach Einführung der Schulpflicht rapide absank. Heute gelten inzwischen 20 % der erwachsenen US-Bevölkerung als kaum lese- und schreibfähig. In Deutschland lassen sich ähnliche Tendenzen feststellen und es wird von einer Quote funktionaler Analphabeten von etwa 15% ausgegangen. Aktuelle Debatten führen uns inzwischen tagtäglich vor Augen, wie weit es trotz beinahe 70 Jahren stringentem Schulsystems in der BRD um Chancengleichheit, soziale Sicherheit und Demokratiesicherung bestellt ist: denkbar schlecht, oder jedenfalls längst nicht so gut, wie uns die Schulideologie glauben machen will, die damit immerhin den extensivsten, stärksten Grundrechtseingriff rechtfertigt, den sich der deutsche Staat heute überhaupt noch leistet!
Schule kann nach meiner ganz persönlichen Meinung nur dann ein förderliches Mittel individueller und gesellschaftlicher Blüte sein, wenn ihr Modell auf Freiwilligkeit beruht und sich die Schule den Bedürfnissen des einzelnen Schülers anpasst, statt ihn in ein enges, schlechtsitzendes und – trotz anderslautender Beteuerungen – noch immer kollektives Korsett zu zwingen.

Ok, die Motive der Freilerner scheinen ja berechtigt zu sein, aber wann man es euch erlaubt, sind doch auch religiösen Fanatikern, politischen Extremisten etc. Tür und Tor geöffnet, ihre Kinder zu indoktrinieren:
Das beste Gegenargument liegt in dem Einwand selbst. Fanatiker und Extremisten, ja. Es gibt sie. Aber haben die etwa keine Schule besucht? Und weiter: Es gibt wie erwähnt weltweit in der Mehrheit der Länder Ausnahmen von der Schulpflicht oder gar keine Schulpflicht. In keinem der anderen Nationalstaaten, die ihren Bürgern Bildungsfreiheit ermöglichen, lassen sich erhöhte Auswüchse von extremistischen Bewegungen erkennen, zumindest gibt es keine Untersuchung, die einen solchen Zusammenhang je nachgewiesen hat.
Zum anderen ist das Freilernen in seiner ganzen liberalen Haltung wahrscheinlich das letzte, das eine extremistische Gruppe ihren Kindern zugestehen würde. Selbst Homeschooling dürfte unter solchen Gruppen kritisch gesehen werden, denn in den Familien sind die Kinder ja auch wieder der Kontrolle der Gruppe entzogen.
Im Gegenteil schaffen es solche Gruppen im jetzt herrschenden System immer wieder, unter dem Deckmäntelchen des Schulrechts konfessionelle Schulen zu gründen, die dann sogar staatlich mitfinanziert werden. Wo das nicht reicht, steckt man seine Kinder in gemeinsame Sommercamps oder Nachmittagskurse, die für die Indoktrination sorgen. Ein Zwang für alle, so lässt sich zusammenfassen, ist kein Mittel, sektiererischen Randströmungen zu begegnen, dafür ist das System einfach zu behäbig, zu unübersichtlich und zu ineffizient.

Wir wollen keine Parallelgesellschaften:
Das Wort „Parallelgesellschaften“ wird immer so rasch in den Raum geworfen. Das ist eigentlich merkwürdig, wenn man bedenkt, dass Parallelgesellschaften ja heute ein ganz selbstverständlicher Bestandteil unseres Daseins – ja – geradezu ein Merkmal unseres Systems geworden sind.
Die Kleinsten leben getrennt von uns in Krippen und Kitas, die etwas Größeren sind in immer mehr Ganztags-Schulen bis zum frühen Abend untergebracht. Männer und Frauen im erwerbsfähigen Alter verbringen mehr und mehr Lebenszeit im Beruf und auch unsere Senioren werden mehr und mehr in Einrichtungen abgeschoben.
Wenn du mich fragst, ist der beste Weg, um dem entgegen zu wirken, diese Institutionalisierungszwänge aufzubrechen und den Menschen wieder mehr Freiräume zur Begegnung untereinander zu ermöglichen. Ich bin relativ sicher, dass sich daraus mittelfristig wie von selbst wieder mehr Lebendigkeit, Toleranz und gesellschaftliche Vielfalt einstellen würde. Die Schule als Einrichtung mit Anwesenheitszwang in einem festumzäunten Gebäude, mit abgetrennten Klassenräumen, mit Alterssortierung und abgeschottet vom realen Leben ist sicherlich kein geeigneter Ort, um dem sinnvoll zu begegnen.
Zugleich muss man in einem anderen Sinne sagen, dass Parallelgesellschaften auch das Kennzeichen einer komplexen, modernen, freiheitlichen Sozialordnung sind. Klar, Migranten bleiben vielfach unter sich. Akademiker blieben meist unter sich. Wer kennt als Arzt schon privat einen Handwerker, mit dem er Bier trinkt? Ja, das mag es hier und da geben, aber die Regel ist es nicht. Auch die alternative Szene, z.B. Anthroposophen haben ihre eigenen Netzwerke. In typischen Bahnhofsvierteln sieht man Gruppen von arabischen oder afrikanischen Männern, die unter sich bleiben. Und wer will es ihnen übelnehmen? Wer will ihnen das Recht nehmen? Dass es Nischen, Subkulturen, voneinander getrennte Bereiche geben kann, ist ja gerade der Vorzug einer Demokratie. Ein Land ohne Parallelgesellschaften in diesem Sinne ist doch eigentlich nur als totalitär verfasstes denkbar. Und tatsächlich ist mir auch keine Untersuchung bekannt geworden, dass der gemeinsame Schulbesuch zu einer wirksamen Durchmischung sonst voneinander getrennter Milieus geführt hat. Die Schule ist ein Teil gesellschaftlicher Reproduktion, und eine geschichtete Gesellschaft reproduziert sich als geschichtete, das ist kein Wunder. Die Schule bevorzugt, als Wettlauf um gute Noten organisiert, diejenigen, die mit einem Vorsprung starten, sie honoriert deren sozialen Habitus und legt zugleich durch die negative Bestätigung schlechter Noten meistens die anderen auf wiederum ihren sozialen Habitus fest. Sie funktioniert als eine gigantische soziale Sortiermaschine, die Differenzen nicht einebnet, sondern neu erzeugt; man kann das am Beispiel französischer Eliten in dem Buch „Die feinen Unterschiede“ des Soziologen Pierre Bourdieu nachlesen. Man kann das beklagen, man kann versuchen, das abzufedern – aber verhindern kann eine Gesellschaft das meines Erachtens nur um den Preis ihrer Freiheit, ihrer demokratischen Ordnung. Andersherum wird ein Schuh draus: Fällt die Zwangsschule für alle weg, öffnet sich erst der Raum für gut finanzierte, attraktive Angebote speziell für benachteiligte Gruppen, wo wirklich handfeste, bestehende Defizite ausgeglichen werden können. Jeder Hauptschullehrer mit der entsprechenden Klientel kann bestätigen, dass dies jedenfalls mit einem Mittel niemals funktioniert: mit Zwang.

Wie stellt die Freilerner-Bewegung sich denn eine optimale Lösung für eine sinnvolle und vielfältige Bildungslandschaft vor?
Die Freilerner-Szene ist insgesamt so vielschichtig, dass es nicht möglich ist, eine  allgemeingültige Aussage hierüber zu treffen. Was man in der Literatur oft findet, ist der Wunsch nach frei zugänglichen Bildungsorten. Diese sind schulähnliche Einrichtungen, wo Menschen jeden Alters sich frei begegnen können, um sich gemeinsam über ihre Interessen auszutauschen, wo man Lernmaterialien und Räume frei nutzen kann, wo auch Kurse angeboten werden, die jeder freiwillig besuchen kann. Dieses Modell wird auch häufig als Vorschlag genannt, wenn es darum geht, wie heutige Lehrer weiterhin ein Auskommen haben könnten, wenn man die Schulpflicht aufhebt und wie man die bestehenden Schulgebäude weiter nutzen könnte. Es ist allerdings ohnehin sehr unwahrscheinlich, dass eine Aufhebung der Schulpflicht zu nennenswerten Lehrerentlassungen und Schulschließungen führen würde. Im Ausland sehen wir, dass trotz bestehender Alternativen überall weit über 90% der jungen Menschen ganz normal die Schule besuchen.
Ein weiterer Vorschlag, der häufig unterbreitet wird, ist eine Art staatliche Unterstützung, die gezahlt werden könnte, um jungen Freilernen Museumsbesuche, Vereinskosten, Hobbyausrüstungen und ähnliches zu finanzieren, da der Staat sich immerhin einiges an Geld einspart, wenn ein junger Mensch sich gegen den Schulbesuch entscheidet. In Kanada und Neuseeland finden sich ähnliche Modelle bereits heute und man hat dort gute Erfahrungen damit gemacht.
Menschen die dem Freilernen zwar prinzipiell nahe stehen, jedoch nicht vollständig auf eine Art von Schulbildung verzichten mögen, äußern häufig, dass sie es gut fänden, wenn es mehr freie, demokratische Schulen in Deutschland geben würde, in denen Lehrplan und Anwesenheitspflicht weniger streng als bisher gehandhabt wären. Solche Gründungen sind heute sehr schwierig, vielerorts scheitern Elterninitiativen an den Vorschriften seitens der Schulbürokratie. Natürlich stellt sich die Frage, wie man von Seiten des Staates bzw. der Gemeinden überprüfen könne, ob das Kindeswohl in einer freilernenden Familie gefährdet ist. Man könnte hierauf durchaus zynisch einwenden: Entschuldigung? Fast monatlich ist zu lesen, dass irgendwo ein Kind totgeprügelt wurde, von seinen Eltern oder sogar Pflegeeltern, denen es vom Staat zugewiesen wurde, und fast immer war die Familie vom Jugendamt betreut, und Ihr habt ein Problem mit den engagierten Eltern, die ihren Kindern freie Bildung ermöglichen wollen? Trotzdem muss man das Problem ernst nehmen. Deshalb wird häufig vorgeschlagen, Registrierungen vorzunehmen und die Kinder regelmäßig in einer Befragung durch Jugendamtsmitarbeiter vorzustellen, ähnlich der U-Untersuchungen beim Kinderarzt. Dort könnten die jungen Menschen dann schildern, womit sie sich beschäftigen, und der Mitarbeiter könne sich einen Eindruck vom Gesamtzustand des Kindes machen. Konkretes Abprüfen des Wissenstandes lehnen die meisten Freilerner hingegen als Möglichkeit kategorisch ab, da das Freilernen grundsätzlich unvereinbar ist mit der Vorstellung, dass bestimmtes Wissen in einem bestimmten Alter erworben werden muss. Einige Freilerner hingegen würden dies vielleicht sogar als Kompromiss-Lösung billigend in Kauf nehmen, bis das Thema insgesamt mehr gesellschaftliche Akzeptanz erfahren hat, meist in der Hoffnung,  dass die Regeln dann step by step weiter aufgeweicht werden.

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Ich hoffe, dies hat dir einen Überblick verschafft und deine Zweifel zumindest teilweise entkräftet. Wenn du dich gern noch weiter informieren möchtest, empfehle ich dir hier unsere Literaturübersicht und Mediensammlung für den ersten Einstieg.

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Steffi vom Freilerner-Kompass