Einleitung und Grundsätzliches –
Dem Kind einen Namen geben

Zuallererst ist es gar nicht so einfach, das richtige Wort zu wählen, für das, was wir hier beschreiben. Hier stelle ich dir im folgenden erst einmal die gängigsten Begriffe vor, denen man rund um das Phänomen der freien, selbstbestimmten Bildung begegnet und die sich inhaltlich zum Teil auch deutlich von einander unterscheiden.

Das Wort „Freilernen“ ist in der Szene in Deutschland ziemlich verbreitet, und wie ich meine, im umgangssprachlichen Bereich auch am häufigsten in Gebrauch. Nicht von ungefähr haben wir selbst das Wort Freilernen in unserem Website-Titel verwendet. Freilernen umfasst dabei eine Art des Lernens, für das keinerlei wie auch immer geartete Lehrvorgaben gemacht werden. Es gibt keinen Lehrplan, es gibt keine festen Lernzeiten, es gibt keinen festen Lernort. Der Lernende bestimmt komplett selbst, was ihn interessiert, wann ihn etwas interessiert, wie umfassend er sich mit etwas beschäftigt und auf welche Art und Weise er sich damit beschäftigt. Er kann sich Hilfe beim Beschaffen von Informationen holen, er kann sich tagelang in irgendwelche Bücher vergraben oder auch einfach mal wochenlang, den Anschein machen, als lernte er gar nicht und spielte „nur“, sähe „nur“ fern, hinge „nur“ mit Freunden rum, oder würde „nur“ beim Kochen helfen und, und, und … und so verrückt wie es vielleicht klingen mag, er lernt dennoch dabei. Dieser Effekt ist ziemlich gut belegt und es gibt inzwischen viele Bücher, die dies anhand etlicher hundert exemplarischer Lern-Biographien detailliert beschreiben.

Aus dem englischen Sprachraum stammt das ebenfalls häufig gebrauchte Wort „Unschooling“. Von seiner inhaltlichen Bedeutung her ist es sehr gut mit „Freilernen“ vergleichbar. Viele gebrauchen dieses Wort aber nicht so gerne, da es in sich schon Schulkritik transportiert. Das wollen die meisten freilernenden Familien aber gar nicht ausdrücken. Ihnen geht es nicht darum, das deutsche Schulsystem abzuschaffen. Viele wollen nicht einmal ihre Art der Bildung mit einer anderen Bildungsform vergleichen. Ob nun dieses oder jenes hier oder da effizienter ist und ob für eine Mehrzahl von Schülern x oder y besser funktioniert, finden sie gar nicht so wichtig. Entscheidend ist aus ihrer Sicht vielmehr, dass der einzelne junge Mensch den Bildungsweg für sich wählen darf, der ihm persönlich gefällt. Das mag für viele Menschen auch die ganz normale staatliche Regelschule sein – keine Frage -, aber so geht es eben nicht allen. Deshalb setzt sich die engagierte Freilerner-Szene unter anderem dafür ein, die Schulpflicht in Deutschland abzuschaffen, alternativen Bildungsformen zu mehr Akzeptanz zu verhelfen und die breite Öffentlichkeit umfassend darüber zu informieren.
Dass es auch ganz anderes funktionieren kann, wird unter anderem am Beispiel Großbritanniens deutlich: Im Unterschied zu Deutschland besteht hier nämlich keine Schulpflicht, wie übrigens in den meisten demokratischen Staaten zumindest Ausnahmen von der Schulpflicht zugelassen sind. Die Zahl der britischen Jugendlichen, die (zumindest für einige Zeit) nicht die Schule besuchen, wird inzwischen auf über 100.000 geschätzt, und deutliche Wachstumsraten sind jedes Jahr zu verzeichnen. Immer mehr empirische Studien werden hierzu durchgeführt, und das Klima für freie Bildung ist in der britischen Gesellschaft inzwischen so günstig, dass statistisch jeder Brite mindestens eine Familie kennt, deren Kinder keine Schule besuchen.
Ein großes Engagement betreibt dabei auch der britische Verein „Education Otherwise“, dessen Name sich auf eine Formulierung im britischen Schulgesetz bezieht. Hierin heißt es sinngemäß: „Die Eltern tragen die Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder „either by regular attendance at school or otherwise““. Die etwa 4.000 Mitglieder setzen sich politisch dafür ein, die Rechte von Familien in Bezug auf kindliche Bildung beizubehalten und zu stärken. Weitere Informationen zur Situation im europäischen und nichteuropäischen Ausland findest du weiter unten.

Frei sich bilden – diese zugegebenermaßen etwas konstruiert anmutende Formulierung hat der Siegburger Philosoph Bertrand Stern geprägt, der sich seit über 40 Jahren mit Schulkritik auseinander setzt und seine Sicht bereits in vielen Büchern und Vorträgen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Worauf es Stern ankommt, ist vor allem achtsam mit Worten umzugehen. Er lehnt das Wort Freilernen ab, da „Lernen“ für ihn verknüpft ist mit dem institutionalisierten, vorgegebenen Wissenserwerb, der sich gänzlich unterscheidet von der natürlichen Neugierde und Wissbegierde eines Individuums, das sich selbst bilden will.
Neben „Lernen“ sind für Bertrand Stern auch andere Worte mit Vorsicht zu benutzen. Hierzu gehört der Gebrauch des Wortes „Kind“, spricht es doch einem jungen Menschen in seiner Grundbedeutung einen anderen Rechtsstatus zu als anderen, „vollwertigen“ Menschen und bildet laut Stern schon die sprachliche Grundlage dafür, dass man jungen Menschen in ungeheurem Maße die Subjekthaftigkeit aberkennt und sie zu Objekten (der Erziehung, der Schulpflicht etc.) degradiert.

Informelle Bildung oder informelles Lernen – dies sind Begriffe, die schon seit einigen Jahren immer mehr Eingang in alle pädagogischen Bereiche finden und die häufig auch im Kontext mit schulischem Lernen verwendet werden. Dann ist zumeist Wissenserwerb außerhalb der Schule mit ihrem formalisierten Lehrplan gemeint, der das schulische Lernen nach persönlicher Interessenslage ergänzen soll. Die Verbreitung dieses Themas zeigt erfreulicherweise, dass Pädagogik und Bildungspolitik immer stärker akzeptieren, dass Wissenserwerb auch außerhalb eines institutionalisierten Rahmens funktioniert. Bedauerlicherweise fehlt zumeist aber noch jegliche Akzeptanz dafür, dass es möglich ist, ein erfülltes und erfolgreiches Leben zu führen, ohne jemals irgendeine Form formalisierten Lernens durchlaufen zu haben.
Ein gutes Beispiel für völlig informelle Bildung ist übrigens der Franzose
André Stern, der niemals im Leben eine Schule besucht hat und seinen bemerkenswerten Bildungsweg anschaulich in seiner Biographie „… und ich war nie in der Schule“ beschreibt.

Homeschooling/Heimunterricht – gerade von Menschen, die sich bisher erst oberflächlich mit der Materie auseinandersetzen, wird Homeschooling sehr häufig mit Freilernen gleichgesetzt, jedoch unterscheiden sich die beiden Begriffe inhaltlich drastisch voneinander.
Klassisches Homeschooling ist nicht als informell zu bezeichnen, sondern es findet ein schulähnlicher Unterricht statt, nur eben zu Hause. Häufig unterrichtet ein Elternteil die Kinder nach schulischem Schema mit mehr oder weniger festem Stundenplan und nach einem Curriculum. Teilweise lassen Familien sogar „Hausaufgaben“ anfertigen, „Klassenarbeiten“ schreiben und vergeben Noten. In der Freilerner-Szene wie auch in der allgemeinen öffentlichen Debatte wird das Homeschooling häufig kritisch gesehen, da vielfach angenommen wird, dass der Wunsch der alternativen Bildungsform nicht vorrangig vom Lernenden ausgeht, sondern von den Eltern forciert wird, beispielsweise aus religiösen Gründen, aus einer extremen politischen Position heraus oder weil die Familie elitäre Tendenzen hat und die Kinder vor allem individuell besser gefördert werden sollen, als es in der sozialen Gemengelage einer Schulumgebung möglich ist.
Aus einigen Studien (zum Beispiel
Alan Thomas:Bildung zu Hause – eine sinnvolle Alternative“) geht hervor, dass viele Familien zunächst mit Heimunterrichtsformen beginnen und hierüber immer mehr in die informelle Bildung hineinwachsen. Manche bemerken nach einiger Zeit schlicht, dass es keinen festen Rahmen benötigt, um eine gute Bildung oder „Lernen“ zu erreichen, bei anderen wehren sich die heimbeschulten Jugendlichen immer stärker gegen den schulähnlichen Rahmen. Häufig äußern sich in Medien oder Politik Ängste, wonach Homeschooling vermehrt zur Bildung von Parallelgesellschaften und zu einer Verschärfung der sozialen Ungleichheiten führe. Freilerner halten dies für unbegründet und verweisen auf das bildungsliberalere Ausland, wo eben keine nennenswerten Probleme mit extremistischen Auswüchsen aus der Homeschoolerbewegung entstehen.
Meine persönliche Meinung hierzu ist, dass uns die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland gerade viel mehr zeigen, dass man Demokratie nur dann als Gesellschaft wirklich leben kann, wenn man auch Andersartigkeit akzeptieren lernt und Vielfältigkeit, so lange sie auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung fußt, explizit zulässt.

Deschooling – Dieser Begriff wurde zunächst vom amerikanischen Autor, Theologen und Philosophen Ivan Illich in seiner Streitschrift „Deschooling Socity“- zu deutsch: „Entschulung der Gesellschaft“ geprägt.
Illich setzt sich aus kapitalismuskritischer Perspektive mit der Institution Schule auseinander, er analysiert ihre direkten und indirekten negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Zudem skizziert Illich ein alternatives, vielschichtiges Bildungsszenario, das der Gesellschaft und dem jeweiligen Individuum eine bestmögliche Entfaltung gewährleisten soll.
Unter Freilernern wird der Begriff der Entschulung alltagssprachlich adaptiert. Er beschreibt dann die Phase, die ein zuvor beschulter Mensch durchläuft, bis er wieder bereit ist, eigene Lernmotivation zu entwickeln und sich für bildungsrelevante Themen zu interessieren. Im Gegensatz zu jungen Menschen, die von Anfang an oder längere Zeit bereits die Möglichkeit hatten, sich frei zu bilden und die interessanterweise selten zwischen Begriffen wie „Arbeit“, „Spielen“, „Lernen“ und „Leben“ unterscheiden, ist es bei ehemaligen Schülern sehr häufig zu beobachten, dass sie aufgrund der üblichen Schulpraktiken wie Benotung, Fremd-Selektion der Wissensinhalte und fehlende Mitgestaltungsmöglichkeiten an den Lernbedingungen bereits resigniert haben. Für sie ist es nicht möglich, gleich nach Austritt aus dem Unterricht wieder selbstmotiviert zu lernen, sie durchlaufen eine Phase, die von Abwehr, Abkapselung und Lernunlust geprägt sein kann.
Häufig wird in der Literatur ein Zeitraum von ca. einem halbem Jahr bis hin zu zwei Jahren Dauer benannt, den diese Deschooling-Phase ausmachen kann.

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Wir haben jetzt die wichtigsten Grundbegriffe geklärt, und du konntest einen ersten Überblick rund um das freie Lernen gewinnen.
Im folgenden möchte ich dir nun gern aufzeigen, welche Möglichkeiten sich konkret für dich, in deiner persönliche Situation, ergeben, um dich näher mit dem Thema auseinanderzusetzen oder sogar selbst aktiv das Leben eines Freilerners zu beginnen.