Ihr Lieben, am heutigen Tag möchte ich den Freilerner-Kompass um eine Blog-Rubrik erweitern. Neben den relativ festen Inhalten in der Kompass-Sektion, ist es mir wichtig, auch eine Möglichkeit zu haben, meine Gedanken zu allen möglichen Themen rund um das Frei-sich-Bilden ganz persönlich und tagesaktuell veröffentlichen zu können. Wie oft dieser Blog bespielt wird? Wer weiß? Vielleicht jede Woche oder alle zwei? Das wird sich zeigen. Zu sagen, gäbe es in diesem Blog-Format definitiv genügend, wie ich eben schon erleben konnte, als ich begonnen habe, eine erste Themen-Liste hierfür zu erstellen. Kritisch ist da wahrscheinlich eher der Faktor Zeit – wie leider so häufig. So viele tolle Dinge, die auf die Bahn gebracht werden wollen. So viele gute Ideen, die einen nicht mehr loslassen und ihrer Umsetzung harren.
Genau das ist es – denke ich, was freilernende junge Menschen im Optimalfall tagtäglich und ganz selbstverständlich erleben. Sie haben Begeisterung für viele Themen. Es bohrt in ihnen. Sie kommen von Hölzchen auf Stöckchen. Ihre Brenner-Themen verflechten sich zu soliden Kausalsträngen und innerhalb kürzester Zeit sind meist völlig mühelos erstaunlichste Projekte realisiert worden. Wunderbar, wenn ein junger Mensch dafür genügend Zeit und Raum findet.
Wenn keine von außen eindringenden Umstände, ihn davon abhalten, seine Potentiale voll zu entfalten.

Bei mir selbst lief das in Teilen meines Lebens nicht so optimal, denn ich ging natürlich zur Schule. Dabei gab es Phasen, die für mich so schrecklich waren – wo mir so elend zumute war – dass ich mir zeitweilig nur noch gewünscht habe, tot zu sein. Ich kann mich auch heute noch lebhaft hinein versetzten, wie ich als Fünfzehnjährige abends heulend auf meinem 1-Meter-40-Bett lag. In meinem düsteren Teenager-Zimmer, nur beleuchtet vom Schein der Straßenlaterne draußen, der blaue Glas-Aschebecher auf dem Nachttisch neben mir zum Bersten überquellend. Mich wütend hin und her gewälzt und in mein Kissen gebissen habe. Wie ich mich von niemandem verstanden fühlte. Wie ich mich entfremdet gefühlt habe von meinen Eltern, von meinen Freunden und am schlimmsten – von mir selbst. Und doch hatte ich zuvor schon enormes Glück in meinem Leben erfahren und dadurch gute Vorraussetzungen. Vorraussetzungen die dafür gesorgt haben, dass ich trotz der Schule meine Integrität bewahren konnte. Ich habe mir damals geschworen, dass ich das alles nicht vergessen werde. Dass meine Kinder das nicht werden erleiden müssen. Dass mein Leben sich endlich wieder richtig anfühlen wird, sobald ich diese für mich absolut synthetische und lebensfeindliche Chose nur hinter mich gebracht habe. Und genau so kam es auch. Nicht einen Tag lang habe ich seither der Schule nachgetrauert. Kaum einen Tag meines Lebens war ich seither wieder unglücklich. Nie wieder habe ich diese quälenden, den Magen windenden Scheiß-Gefühle gespürt, an die ich mich auch heute noch nur all zu gut erinnern kann. Wie konnte ich mich seither entfalten? Was nicht alles auf die Beine stellen? Was habe ich nur für ein verdammtes Glück gehabt, dass ich hinterher immer noch in der Lage war, meine Geschicke wieder selbst zu lenken? Doch was war es? Was hat mir diese unerhörte Resilienz verliehen?
Um das zu erläutern, möchte ich euch auf eine kleine Zeitreise entführen. Über ein halbes Jahrhundert gehen wir in meiner Ahnenreihe zurück und treffen dort eine erstaunliche Frau in der damals noch jungen DDR der fünfziger Jahre – meine Großmutter, die zu diesem Zeitpunkt noch den Namen Edeltraut Spalding trug.

Meine Oma lebte mit ihrem Mann und zwei Söhnen (der Große war 13, der kleine gerade geboren) in einer Försterei in Brandenburg. Dort half das Paar dabei, den Aufstand des 17. Junis 1953 durchzuführen. Der Mann meiner Oma wurde festgenommen und verstarb bald darauf in Haft, war er doch zuvor schon durch seine langjährige, sowjetische Kriegsgefangenschaft ein gesundheitliches Wrack. Die junge Edeltraut, eine Frau von gerade 33 Jahren, bekam hier keinen Fuß mehr auf die Erde, war völlig mittellos und geächtet und sah den einzigen Zufluchtsort bei ihren Schwiegereltern im rheinländischen Hürth bei Köln, wohin sie mit ihren Söhnen schließlich ging. Edeltraut war immer eine lebenslustige Frau gewesen. Sie sah alles durch die rosa-rote Brille. Nichts konnte sie erschüttern. Sie liebte das Leben und sah immer nur die guten Aspekte, egal wieviel Steine in ihrem Weg lagen. Als sie an einem lauen Wochenende im September 1959 ein Kaffee-Fahrt auf dem Rhein unternahm, lernte sie einen gut aussehenden, kultiviert wirkenden Mann kennen und verliebte sich aus dem Stand in ihn. Der Mann war verheiratet, was er vor meiner Oma zunächst erfolgreich verbergen konnte. Als meine Mutter im Juni 1960 geboren wurde, war die Affäre bereits beendet. Dieser Mann ist Zeit seines Lebens niemals als Vater oder später als Großvater in Aktion getreten. Meine Oma war von nun an völlig auf sich alleingestellt. Hatte nun auch hier jegliches Ansehen verloren. Sie schlug sich mit Näharbeiten und Sozialhilfe durch. Lebte als Vierzigjährige mit ihrem achtjährigen Sohn und der kleinen Baby-Tochter in einem winzigen Zimmer. Ohne es zu wollen, ohne jegliche Absicht dahinter, Jahre vor 68 und noch mehr Jahre vor von Braunmühls Antipädagogik führten die Umstände dazu, dass meine Mutter schon zu weiten Teilen das erfahren durfte, was wir heute als „unerzogen aufwachsen“ bezeichnen würden. Einfach nur, weil die Umstände sich ebenso entwickelt hatten und meine Oma keine Zeit für stringente Erziehungskonzepte hatte. Stattdessen schenkte sie ihren jungen Kindern die einzige Zuwendung, die sie entbehren konnte und die umfasste das gemeinsame Schlafen in dem schmalen Bett, die Wärme und Geborgenheit, die dabei entstand sowie einige Schlaflieder und Einschlafgeschichten, die auch ich noch von ihr kennen gelernt habe. Meine Mutter hatte dadurch in weiten Teilen ihrer Kindheit absolute Narrenfreiheit und erlebte Zucht und Ordnung meist nur dann, wenn es über den Sommer mal zu den Großeltern in die Zone ging.
Meine Mutter war 9 Jahre alt, als meine Oma vom örtlichen Postboten mit dem Mann verkuppelt wurde, der mir als mein legitimer Großvater gilt. Bernhardt Kautz war selbst seit einiger Zeit verwitwet. Seit seine Frau an Krebs gestorben war, bekam er so recht kein Bein mehr auf die Erde. Er und sein adoleszenter Sohn tranken zu viel und drohten zu verwahrlosen. Dem nahm sich meine Oma tatkräftig an. Sie sanierte das kleine Häuschen, sorgte dafür, dass Opa Bernhardts Rente von der chemischen‘ nicht mehr gegen Hochprozentiges eingetauscht wurde und das stattdessen der Kühlschrank immer voll war und der kleine Bauern-Garten hinterm Haus ordentlich bestellt. Und meine Mutter erlebte zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie einen Vater, der aber eigentlich auch für sie mehr ein lustig-lieber und gönnerhafter Opa gewesen ist und zum Glück kein autoritärer Scheißkerl.

Die Geschichte könnte hier schon zu Ende sein, wenn es nicht durch weitere schräge Zufälle dazu gekommen wäre, dass ich quasi die ersten sechs Jahre meines Lebens fast ununterbrochen bei Oma Trautchen und Opa Bernhardt aufgewachsen bin. Meine Mutter heiratete meinen Vater sehr früh mit gerade 18 Jahren, damit beide zusammen ziehen konnten. Bei aller Freiheit waren meine Großeltern doch in der Hinsicht sehr sittenstreng. Ich wurde geboren als meine Mutter 19 und mein Vater 25 Jahre alt waren. Beide gingen in Vollzeit arbeiten und wollten es endlich mal genießen, über finanzielle Freiheit zu verfügen. Hinzu kam, dass meine Mutter nach der Geburt stärker erkrankte und immer wieder längere Klinik-Aufenthalte hatte. Also war ich zu einem Großteil der Zeit bei meiner Oma. Ich schlief bei ihr im Bett, begleitete sie wohin sie auch ging, spielte neben ihr in der Küche während sie ihre Näharbeiten verrichtete, half ihr beim Kochen, bekam von meinem Opa hunderte von Karten- und Brettspielen gezeigt, bei denen er mich immer hat gewinnen lassen, durfte alle Schränke nach Herzenslust erkunden, mit allem Spielen was ich fand und mit das beste war: meine Oma wohnte direkt gegenüber von meinem Kindergarten (der damals übrigens nur von 8:00 bis 12:00 Uhr ging) und über die Hälfte meiner Kindergartenzeit habe ich gar nicht dort verbracht, weil es bei meiner Oma meistens viel schöner war und sie mich nie dorthin geschickt hat, wenn ich gerade im Spiel vertieft war. Die Zeit mit meinen Eltern war fast mehr so etwas wie Bonus-Zeit on top. Auch hier habe ich nicht viel Erziehung erfahren und eher die netten, zugewandten Aspekte erfahren wie hin und wieder Ausflüge machen, Toben, gemeinsam Kuscheln und miteinander philosophieren. So lange ich noch nicht in der Schule war, durfte ich zum Beispiel so lange Abends aufbleiben, wie ich wollte und durfte immer bei ihnen im Bett schlafen. Es waren eben junge Leute, die nicht viel Verantwortung trugen und viel Ausgleich hatten. Und es waren die späten Siebziger und frühen Achtziger – die Blütezeit der Reform-Pädagogik. Mit all dem zusammen genommen, fällt es nicht schwer, einen gelassenen Umgang mit seinem Kind zu haben. Ich will nicht verhehlen, dass ich gerade von meinem Vater auch mal Schläge kassiert habe. Die waren natürlich scheiße und überhaupt nicht in Ordnung, sollten aber immer der kurzfristigen Bestrafung für irgendein akutes Vergehen dienen. Eine langfristig motivierte Erziehungsstrategie gab es schlicht und ergreifend nicht bei meinen Eltern. Der Clinch kam dann, wie du dir vielleicht denken kannst im Spätsommer 86 mit meiner Einschulung. Da hat sich alles verändert.

Zunächst begann es noch schleichend. Dass ich schon vollständig lesen konnte, einen Zahlenraum von über 1.000 hatte und das alles trotzdem jetzt nochmal lernen sollte, war total nervig, aber das habe ich meiner bezaubernden Klassenlehrerin gerne verziehen. Frau Esser war eine liebenswerte und herzensgute Person und für mich eine richtige Freundin. Dass ich immer nur dann engagiert mitgearbeitet habe, wenn mich etwas interessiert hat und ansonsten in Tagträume verfallen bin, hat sie immer toleriert. Dass ich eine große Begabung fürs Geschichten schreiben hatte, dafür aber komplett mies in Rechtschreibung war, hat unser Verhältnis auch nicht weiter getrübt. Sie hat darüber nie viel Aufhebens gemacht und meine Eltern sind nie darauf gestoßen worden, dass bei ihrem Kind irgendwelche Defizite verbessert werden müssen. Meine schulischen Angelegenheiten habe ich von Anfang an selbst geregelt ohne Kontrolle von außen. Nur dass ich jetzt nicht mehr einfach zu Hause bleiben konnte, wenn ich mal keine Lust hatte zu gehen, war blöd. Da knirschte zum ersten mal das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter. „Du darfst nur zu Hause bleiben, wenn du krank bist.“ Inzwischen war auch meine sechs Jahre jüngere Schwester geboren und meine Mutter hatte aufgehört zu arbeiten. Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass meine Mutter es nun alles besser machen wollte. Richtig viel Zeit mit dem Baby verbringen, einen hippen, reformpädagogischen Kindergarten gründen, wo ich zuvor noch auf einen Nonnen-geführten, katholischen Kindergarten besucht habe usw. Bei mir war der Drops schon gelutscht. In den Augen meiner Mutter war ich quasi schon erwachsen. Ich war so selbstständig, dass ich oft Mittags für uns gekocht habe und mit sechs-einhalb das erste mal auf meine Babyschwester für mehrere Stunden alleine aufgepasst habe. Aber Schule schwänzen? Nein, das ging nicht! Da war meine Mutter unerbittlich. Also versuchte ich es mit krank sein. Das hat meine Mutter mir aber nicht abgekauft. „Wenn du nicht mindestens 37,5° Fieber hast, gehst du zur Schule.“ Erst als ich auf dem Schulweg auf den Asphalt gekotzt habe und mich mit Bauchkrämpfen nach Hause geschleppt habe, fuhr meine Mutter mit mir zum Arzt – zwei Tage später war mein Blinddarm raus operiert. In meiner Grundschulzeit habe ich dann noch so einiges versucht. Habe beim Sportunterricht einen Hexenschuss simuliert, weil meine Mutter, den auch erst kürzlich hatte und solche Sachen. So glaubhaft wie die Blinddarmentzündung damals habe ich es aber nie wieder hinbekommen. Ich hatte noch zwei mal über 37,5° Fieber – beide Male dummerweise in den Ferien.
So richtig mies wurde es ab dem vierten Schuljahr. Unsere entzückende Frau Esser hatte sich an eine neue Schule versetzen lassen. Sie wohnt keine zwei Minuten von unserer Schule entfernt und wir alle hatten es uns angewöhnt, sie nach der Schule zu Hause zu besuchen. Sie hatte praktisch kein Privatleben und keine Ruhe mehr vor uns und ging diesen Schritt schweren Herzens. Nun wurde Frau Hildebrandt meine neue Klassenlehrerin, die mich durch und durch verabscheute. Ich war ihr zu verspielt, zu verträumt, nicht autoritätshörig genug. Hatte mir Frau Esser immer noch ein gnädiges „ausreichend“ unter meine Diktate geschrieben, bekam ich nun bei Frau Hildebrandt das erste mal in meinem Leben ein „mangelhaft“. Das hat mich so erschüttert, dass ich an dem Tag nicht nach Hause wollte. Ich verbummelte den ganzen Nachmittag draußen und als meine Eltern am Abend im Bett waren, habe ich mich auf‘s Klo geschlichen, die betreffenden Seiten aus dem kleinen, blauen Heft gerissen und im Klo runter gespült. Die Unterschrift, die Frau Hildebrandt dann kontrollierte, war natürlich die vom vorletzten Diktat, was ihr zum Glück nicht aufgefallen ist. Das war das erste Mal, aber bei weitem nicht das letzte, dass die Schule mich dazu veranlasst hat, zu betrügen. Mir war zuvor noch niemals so elend zu Mute in meinem Leben.
Dann kam die Frage nach der weiter führenden Schule auf. Fast alle Kinder unserer Klasse sollten auf‘s Gymnasium wechseln. Auch ich wollte das entsprechend. Frau Hildebrandt war strikt dagegen. Auch meine Eltern waren eher skeptisch. Sie selbst hatten beide nur die Volksschule besucht und hatten Angst, dass sie mir nicht genug helfen könnten. Unterstützung erfuhr ich auch hier wieder von Frau Esser. Sie war für den Schulwechsel-Prozess noch mal dazu gekommen, da sie uns ja durch die ersten drei Jahren begleitet hatte. Sie sprach sich eindeutig dafür aus, dass ich zum Gymnasium gehen soll. „Wenn Stefanie das will, dann schafft sie das auch.“ Im Nachhinein kann ich sagen, das von den 12 Kindern unserer Klasse, die zum Gymnasium wechselten, nur zwei hinterher das Abitur geschafft haben. Außer mir noch ein hochbegabtes und hochgefördertes Mädchen (eine Lehrertochter, mit der ich sehr gut während der Grundschule befreundet war) und das als einziges von uns auf das andere Gymnasium am Ort wechselte und bald schon ganz aus Hürth fortzog. Später übersprang Tina noch zwei Klassen und hat sich mit kaum Zwanzig auf dem Dachboden einer psychiatrischen Klinik in London erhängt.

Der Wechsel auf‘s Gymnasium war furchtbar. Es war total anonym. Es gab fast tausend Schüler. Viele der Fachlehrer kannten auch nach einem Jahr noch nicht meinen Namen. „Ach ja, eines der blonden Mädchen da hinten, wie heißt du noch? Sandra? Sabine? Du kriegst mal ne drei in Bio, würde ich sagen.“ Vom körperlichen wie vom geistigen her, war ich schon weit entwickelt. Ich hatte schon deutliche Brüste und bekam mit gerade 11 Jahren meine Periode – als erstes Mädchen in der Klasse. Als meine Englischlehrerin zufällig mitbekam, dass ich schon seit einigen Monaten die Bravo lass, echauffierte sie sich dermaßen vor der ganzen Klasse darüber, dass ich wochenlang von meinen Mitschülern damit aufgezogen worden bin. Von Tag zu Tag passte ich weniger hier rein. Kapselte mich mehr und mehr ab. Wollte nicht mehr hier sein und wurde fortan von meinen Mitschülern zunehmend fies gemobbt. Dem begegnet bin ich, in dem ich mich überhaupt nicht mehr mit meinen Klassenkameraden abgegeben habe. Ich habe mir vorwiegend ältere Freunde gesucht und mich total in ein Mädchen vernarrt, dass in meine Parallel-Klasse ging – ebenfalls versehen mit Brüsten und Periode. Durch sie bin ich mit meinem ersten Freund damals zusammen gekommen. Einem fünfzehnjährigen Jungen, der bei ihr im Dorf lebte. Als meine Mutter mich dann abends bei ihr abholte und einen Knutschfleck an meinem Hals entdeckte, durfte ich nicht mehr zu ihr. Ohnehin war sie meiner Mutter viel zu frühreif. Wir trafen uns dann außerhalb der Schule nur noch heimlich. Nach dem Schuljahr wechselte sie dann auf die Realschule.
Ich hatte viele Freunde und Bekannte. Überall. Ich war in diversen Sportvereinen, war gut gelitten in der Nachbarschaft, lernte andere Jugendliche im Schwimmbad und im Einkaufszentrum kennen. Nur in meiner Klasse – da hatte ich nicht einen Freund. Der Unterricht machte zusehends weniger Spaß. Ich hatte mich so krass auf die ganzen neuen Fächer gefreut, war hochmotiviert gestartet, doch inzwischen war die Luft komplett raus. Ich machte keine Hausaufgaben, lernte nicht für Arbeiten und machte nur noch sporadisch mit, wenn mal hier oder da ein Thema einen kleinen Funken Interesse bei mir wecken konnte. Meine Eltern wurden langsam argwöhnisch, aber bisher konnte ich noch einigermaßen glaubhaft machen, dass alles in Butter ist. Weil ich in meiner Klasse alle doof fand und die mich auch, suchte ich mir andere Gesellschaft in der Schule und stieß irgendwann auf die coolen Jungs, die die Pausen immer kiffend vorm Luftschutzbunker verbrachten. Um denen zu gefallen, fing ich auch an zu rauchen und blau zu machen. Schrieb meine Entschuldigungen selbst, fälschte die Unterschrift meiner Mutter. Ich liierte mich mit einem Jungen, der vier Jahre alter war und der schon eine steile Drogenkarriere hinter sich hatte. Ich probierte auch alles mögliche aus. Zum Glück war ich lieber nüchtern als high und habe es deswegen schnell sein gelassen. Ich denke, dass dies auch so ein Punkt ist, wo mein recht unerzogenes Aufwachsen hilfreich war. Wer im Reinen mit sich selbst ist, muss sein Bewusstsein nicht betäuben.

Inzwischen hatte ich mich aus allem erdenklichen zurückgezogen. Verbrachte eigentlich nur noch Zeit mit meinem Freund und seinem Umfeld. Das Verhältnis zu meinen Eltern war inzwischen unendlich schlecht. Sie waren hin und her gerissen, ob sie mir mein Taschengeld entziehen sollten und mir den Umgang mit diesem Jungen rigoros verbieten oder die Zügel mal ganz locker lassen sollen und mir vertrauen. Zum Glück hat meine Mutter am Ende letzteres durchgesetzt. Ihre eigene Schulkarriere und gesellschaftliche Entwicklung war, wie ich inzwischen weiß, der meinen gar nicht so unähnlich. Das soll hier am Rande erwähnt sein.
Sie brachte mir fortan immer Zigaretten mit nach Hause, worauf ich nicht mehr aus ihrem Portmonee oder der Spardose meiner kleinen Schwester stehlen musste. Mein Freund durfte fortan immer bei mir schlafen, wenn ich wollte. Meine Eltern vermieden dabei aber tunlichst auf ihn zu treffen. Es war ihm aus verschiedenen Gründen nicht gestattet hoch ins Wohnzimmer zu kommen. Es war eine schlimme Zeit, in der ich wirklich durch ein finsteres Tal bin, angeritzte Pulsadern inklusive, die ich demonstrativ nicht versteckt habe, wodurch endlich jeder verstehen sollte, wie erbärmlich es mir ging.
Bis ins neunte Schuljahr bin ich ganz gut durchgekommen mit meiner immer stärker ausufernden Blaumacherei, mit dem Antworten raten in Klassenarbeiten und damit im Unterricht gerade soviel Engagement zu zeigen, dass noch eine Drei bis Vier dabei herauskam. Am Ende des neunten Schuljahrs hatte ich dann zwei Fünfen auf dem Zeugnis und musste nach den Sommerferien zur Mathe-Nachprüfung. Die habe ich nicht geschafft und kam dann in eine neue Klasse, in die eine gute Freundin aus der Nachbarschaft ging, sowie auch einige andere Mädchen, mit denen ich locker befreundet war und es dankenswerter Weise bis heute bin. Jetzt hatte ich gleich mehrfach Grund wieder motiviert zu sein. Ich war meine alte, gehasste Klasse los, hatte gute Freunde um mich, konnte bei den Lehrern, die mich noch nicht kannten von vorne anfangen und mein gekränkter Stolz, sitzen geblieben zu sein, stachelten mich so an, dass ich jetzt Ehrgeiz entwickeln konnte. Ich schloss das neunte und zehnte Schuljahr mit exzellenten Noten ab – bis auf Mathe – da behielt ich bis zum Ende der 13 meine fünf und verließ schon bald meinen damaligen Freund mit samt seinem zwielichtigen Kontext. Dann kam die Oberstufe, in der ich endlich meinen Stundenplan weitestgehend selbst zusammen stellen konnte. Ich wählte Deutsch und Kunst als LK und machte ausgiebig davon gebrauch, dass ich bei den anderen ungeliebten Fächern, die ich so drum herum nehmen musste, meine Entschuldigungen nun selbst schreiben konnte – ganz legal. Ich habe das exakt soweit ausgereizt, wie möglich, um keinen Nullkurs zu bekommen. Als ich am Ende der 12 schon alle Punkte fürs Abi beisammen hatte und jetzt nur noch darauf achten musste, keine Defizite zu sammeln und die Abi-Prüfungen im Schnitt ausreichend zu bestehen, habe ich komplett die Zügel schleifen lassen. Das letzte Jahr war wirklich nur noch ein Durchhangeln und zog sich wie Kaugummi. Was für eine gewaltige, von außen aufgezwungene Zeitverschwendung von kostbaren, nie wiederbringbaren Jahren! Als ich dann das Abi mit glatt 3,0 bestanden hatte, fing für mich endlich das wirkliche Leben wieder an.
Ich zog mit meinem neuen Freund und heutigen Ehemann nach Koblenz, wo ich erst einmal irgend ein Verlegenheitsstudium wählte und eine fette Deschooling-Phase von zwei Jahren durch gemacht habe, die sich wirklich gewaschen hatte und die definitiv einen eigenen Blog-Artikel wert ist. Danach begann ich mit frischer Energie und voller Leidenschaft eine Ausbildung zur Mediengestalterin, die ich mit phantastischen Noten abschloß und in der ich selbst die Zeit in der Berufsschule richtig genossen habe – und in der ich sogar eine zwei in Mathe ergattern konnte. Hier sei noch mal erwähnt, welchen gravierenden Unterschied es macht, ob Mathematik praktische Anwendung findet und im Kontext steht mit Themen, die einen interessieren oder eben nicht. Seither funktioniert er wieder – mein innerer Anrieb. Die nie versiegende Energie ist zurück. Seither habe ich mich ständig neu erfunden, habe dies und jenes ausprobiert, manches verworfen, vieles für gut befunden und beibehalten. Ich bin ein Freilerner aus vollem Herzen. Mich hätte die Schule fast zerstört, aber ich habe sie überlebt. Wenn meine Kinder mir eines Tages signalisieren sollten, dass auch ihnen die Schule nicht gut tut, zögere ich nicht eine Sekunde, sie da raus zu nehmen.

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Freilernen in der Medienberichterstattung // Wie authentisch darf’s denn sein?

11 Comments

  1. Hier mal ein Test-Kommentar von mir

  2. Mein erster Blog-Artikel. Ich freue mich auf eure Kommentare!

  3. Christina

    Hallo Stefanie,
    vielen Dank für diese Seite, für diesen Artikel. Meine Kinder sind je ein Jahr jünger als Deine und ich mache mir sehr viele Gedanken zum Thema Schule, Freilernen und ja unser Leben. Internet ist die erste Infoquelle, unsichere Quelle erstmal. Es ist besonders am Anfang sehr “undurchsichtig”. Ich beschäftige mich etwa seit einem halben Jahr damit und ja meine Wahrnehmung von der “Szene” springt von großer Begeisterung und Bewunderung über “ne, ne irgenwie wird mir das grad zu esoterisch” bis “Oh Nein! wie bin ich bloß hier gelandet?!”.
    Seiten wie Deine helfen mir mehr Übersicht zu bekommen, mich zu ordnen und dann erstmal den nächsten Schritt zu machen und dann vielleicht noch einen… Danke für die Transparenz! Ich bin auf Weiteres sehr gespannt!
    LG, Christina

    • Stefanie Weisgerber

      Liebe Christina,
      ich danke dir herzlich für deinen Kommentar. Auch ich empfinde die Freilerner-Szene als sehr vielschichtig und lese gerade im Internet immer wieder Sachen, wo auch ich persönlich ganz oft denke: “Oh je, damit möchte ich mich nicht gemein machen.” Außerhalb des Internets ist es dann aber meist wieder ganz anders. Auf Freilerner-Treffen z.B. erlebe ich ganz häufig eine sehr große Einigkeit und starke Resonanz mit den Menschen, die da zusammen kommen. Ich freue mich sehr, wenn ich dazu beitragen kann, manches zu relativieren was man so im Netz findet und wenn es mir gelingt trotz meiner subjektiven Haltung zu den Dingen, das Freilernen so objektiv wie möglich darzustellen.
      Ich wünsche dir und deinen Kindern alles Gute und weiterhin viele wertvolle Erkenntnisse und Hilfreiches auf eurem persönlichen Weg.
      Liebe Grüße!

  4. Danke für den Artikel. Es ist so wichtig, dass Menschen sich trauen, über ihre Schulerlebnisse und überhaupt über ihre Erziehung zu sprechen.

    • Stefanie Weisgerber

      Lieber Thorsten,
      ich danke dir sehr für dein Lob und deine Ermutigung. Auch ich denke, dass es sehr wichtig ist, sich kritisch mit der eigenen Kindheit auseinander zu setzen. Viele Menschen neigen dazu, sich im Nachhinnein alles schön zu reden oder das Erlebte als halb so schlimm abzutun. Dabei denke ich, dass die Auseinadersetzung in jedem Fall sehr heilsam wäre, auch wenn vieles vielleicht erstmal schmerzt, sobald es wieder ins Bewusstsein rückt. Gerade wenn man Freilernen ernsthaft in Erwägung zieht, sollte man versuchen sich Klarheit zu verschaffen, was einen da so alles reitet. Darüber zu schreiben, kann auf jeden Fall ein guter Weg sein, um sich die Dinge bewusst zu machen. Ich würde mich freuen, wenn meine persönliche Geschichte hierzu Anregung geben kann und vielleicht auch Nachahmung findet.
      Liebe Grüße und alles Gute für dich und deine Familie.

  5. hallo Stefanie

    Unglaublich spannend, wie Du das Leben deiner Deiner Grosseltern bis zu Dir unter dem Aspekt der Freiheit nachzeichnest, und wie vieles schon früher da war, schicksalsbedingt, und sich weitergibt in die folgenden Generationen.

    Ich möchte alle ermutigen, ihren Kindern diese Freiheit als kostbarstes Gut mitzugeben. Wir selbst haben 4 Kindern, 3 von ihnen sind Freilerner.

    herzlich, Pedro

  6. Cora

    Liebe Steffi, so persönlich so DU <3 Deine Offenheit inspiriert mich…Ich freue mich auf mehr 🙂

  7. Liebe Stefanie,
    DANKE für deine ganz persönliche Geschichte! Ich finde es erstaunlich, dass du so Vieles aus dem Leben deiner Großmutter ausgraben konntest. Meine hielt sich da immer sehr “bedeckt”. Ja, ich denke auch, dass es SEHR wertvoll ist, wenn wir die Zusammenhänge in der Biographie erkennen und vielleicht dadurch nicht unbedingt immer wieder das Gleiche wiederholen. Das wäre ja schon fein.
    Ich finde es ganz besonders erstaunlich, dass Menschen, die selbst viel Demütigendes in der Schule erlebt haben, genau diese Schule später verteidigen und ihren Kindern gegenüber rechtfertigen. Schlimm ist das, und wir wären bei der Abschaffung der Schulpflicht schon viel, viel weiter, wenn wir dieses Verhaltensmuster im Griff hätten. So dramatisch wie du habe ich die Schule gar nicht erlebt, aber dennoch war mir klar, dass mein Sohn (inzwischen 11) da nicht hingehen wird. In Ö haben wir es bisher mit “wirklich echtem Freilernen” geschafft! Mein Sohn war nie “outgesourct” und ist nicht “beschult” – wie das schon klingt! Er ist einfach ein anderer Mensch! Deshalb möchte ich dir gerne mitgeben, dass – wenn es euch als Eltern irgendwie möglich ist und für euch passt – ihr euren Kindern dieses wirklich freie Leben, Erkunden, Erforschen möglich macht. DAS ist einfach anders als – schon im Kindergarten beginnendes – Beeinflussen von außen. Klar kann man schlimmstenfalls auch wieder “aussteigen”, aber besser ist: gar nicht einsteigen!
    Alles Gute euch,
    Heidi

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